Ungläubig starrte ich das Tier auf meiner Schulter an. Und der Rabe starrte zurück.
Diese Augen!
Ein eisiger Schauder rann mir unwillkürlich den Rücken hinab. Noch nie hatte ich bei einem Tier solche Augen gesehen. Sie waren um so vieles intelligenter und wissender, als sie es hätten sein dürfen. Klüger, als die Augen vieler Menschen die ich kannte.
Oder vielleicht hatte ich in der Vergangenheit einfach nie genau genug hingesehen?
Man sagt, dass die Augen Fenster zur Seele sind. Ich fragte mich unwillkürlich, wie die Seele wohl aussehen mochte, die sich hinter diesen unheimlichen, dunklen Augen verbarg.Bis zu diesem Moment hatte ich immer geglaubt, ich würde von Gefühlen überschwemmt werden, sollte mir jemals etwas Derartiges passieren. Aber da war nichts. Fühlte mich seltsam fremd und losgelöst vom Rest der Welt. So als würde das alles jemand anderem passieren.
Langsam ließ Zaarah meine Hand los als ein Rabe nach dem anderen in die Nacht davon flog. Lediglich derjenige auf meiner Schulter blieb an seinem Platz und krächzte leise in mein Ohr.
So fühlte es sich also an, die Auserwählte einer Göttin zu sein.Oben bei den Adeligen wurde getuschelt. Die Rabenmutter sagte etwas und die Menge atmete hörbar auf.
Aber das alles bekam ich kaum mit.
Auch wenn ich noch nicht in der Lage war, das Geschehene vollinhaltlich zu begreifen, so sickerte doch ganz langsam die Erkenntnis zu mir hindurch, dass ich meine Freunde, ja selbst meine Familie, vermutlich nie wiedersehen würde.
Und ich war gerade dabei die letzten kostbaren Minuten die uns noch blieben mit sinnlosem Nichtstun zu verschwenden.
Sofort bildete sich ein dicker Kloß in meinem Hals.
Ich hasse Abschiede.Alle starrten mich an. Unschlüssig blickte ich zu Mark. Er hatte Tränen in den Augen.
Ich holte tief Luft, machte mich los und schritt auf meine Eltern zu, entschlossen mich dieser Herausforderung zu stellen. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber es erforderte einiges an Mut den Menschen ein letztes Mal gegenüber zu treten, die ich schon mein Leben lang kannte.
Doch meine Mutter vergrub bei meinem Anblick ihr Gesicht in den Händen und mein Vater blickte betreten zu Boden. Ich murmelte einige unverständliche Worte. Dann eben nicht.
Als ich mich abwandte konnte ich ihre ratlosen Blicke in meinem Rücken spüren.
Etwas zupfte an meinem Kleid. "Mia," nuschelte Benjamin und sah aus aus großen braunen Kinderaugen zu mir auf.
Ich ging in die Knie. Strich zärtlich über seine winzige rosa Wange.
Er verzog das Gesicht.
"Ich muss für eine Weile weg, Kleiner," sagte ich mit rauer Stimme.
"Ich weiß," sagte er. „Herzlichen Glückwunsch."
Ich runzelte die Stirn. „Herzlichen Glückwunsch?"
„Du bist doch jetzt Champion, oder?"
„Ja", sagte ich vorsichtig. „Sieht so aus."
„Mama hat gesagt, dass die Götter nur ganz besondere Menschen aussuchen. Ich finde, die Götter haben gut gewählt."
Ich lächelte und versuchte nicht in Tränen auszubrechen.
"Bleib nicht zu lange weg und bring mir was Tolles mit, ja?" mein kleiner Bruder sah mich erwartungsvoll an.
Stumm blickte ich ihm in die Augen, brachte es nicht über mich, ihn anzulügen.
"Versprochen?" fragte er unsicher in die Stille hinein.
Ich nickte zögerlich und wandte mich schnell ab, damit er meine Tränen nicht sehen konnte. Warum ich?Starke Arme legten sich um mich. Mark.
Unwillig schüttelte ich ihn ab. Ich war noch nicht so weit.
Von ihm wollte ich mich als letztes verabschieden.
Zaarah stand hinter mir und lächelte traurig. Eine Weile starrten wir uns unschlüssig an.
Schließlich streckte ich meine Hand aus. Zaarah legte ihre Handfläche auf meine und wie verschränkten unsere Finger ineinander. Wie in alten Tagen.
"Beste Freunde, auf immer und ewig," flüsterte ich mit halb erstickter Stimme.
Für einen Moment wirkte es, als wollte Zaarah noch etwas sagen, aber dann schüttelte sie nur kaum merklich den Kopf. Eine einsame Träne tropfte in unsere Hände.Mich von Mark zu verabschieden, zählte zweifelsohne zu den schwersten Dingen, die ich je getan habe. Ich glaube, das war der Moment, indem es endgültig um meine Selbstbeherrschung geschehen war. Hemmungslos schluchzend lag ich in seinen Armen.
Er strich mir unbeholfen über den Rücken und murmelte:
"Keine Angst. Alles gut."
Dabei wusste er so gut wie ich, dass eben nicht alles GUT war. Im Gegenteil!"Hmhmm," tönte es plötzlich über den ganzen Platz.
Ich blickte auf und sah mit Schrecken mein eigenes verheultes Gesicht auf der Leinwand. Mark hatte augenscheinlich noch nichts davon bemerkt.
"Auch wenn ich nur ungern unterbreche, ändert dies nichts daran, dass dieser junge Mann gerade einen der heiligen Boten unserer Göttin angegriffen hat. Ich möchte mit Nachdruck daran erinnern, dass es bei schwerster Strafe verboten ist, Raben Leid zuzufügen!"
Es war der junge Thronanwärter, der sprach. Derjenige, der gesternmorgen wegen meiner Unachtsamkeit im Dreck gelandet war.
Seine Letzen Worte kamen mir urplötzlich wieder in den Sinn. Das wird Konsequenzen haben.Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, setzte sich ein halbes Dutzend Kampfroboter in Bewegung. Sie kamen mit erstaunlicher Geschwindigkeit von allen Seiten näher, während wir wie angewurzelt dastanden und die Menge hastig versuchte, rechtzeitig Platz zu machen.
Mark leistete keinerlei Widerstand als die Wachen ihn ergriffen.
Ich hingegen schrie mir die Lungen aus dem Leib, versuchte die Leute von Marks Unschuld zu überzeugen. Doch ich hätte genauso gut gegen eine Wand brüllen können. Um mich herum gab es nichts als schuldbewusste, betretene Gesichter, die sich schnell abwandten sobald sich unsere Blicke trafen. Leute, die allesamt zu feige waren sich gegen die Elite und für die Gerechtigkeit einzusetzen. Sie schauten lieber weg, waren froh, dass das Schicksal an ihnen vorübergegangen war.
So, wie ich es an ihrer Stelle vermutlich auch getan hätte.Daran, was in den folgenden Minuten passierte, kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Irgendwann fand ich mich auf der Säule wieder. Ich stand ganz vorne. Ganz nah am Abgrund.
"Wirst du, Auserwählte, die Ehre annehmen für Rabenklaue, den Anwärter aus der Stadt des Raben, im Zeichen der Rabengöttin zu kämpfen, zu rennen und zu siegen?"
Ich starrte mit leerem Blick auf das Mikrofon, die unzähligen Menschen vor mir und die Stelle, wo ich meine Familie vermutete. Den Ort, an dem Mark von den Robotern gefangen genommen worden war. Mir wurde heiß. Mein Herz pochte wie wild und meine Gedanken wirbelten durcheinander. Das alles war viel zu viel für mich. Die Welt wurde dunkel und ich spürte, wie ich dem Boden entgegen sank.
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Im Zeichen des Raben
Научная фантастикаIn ferner Zukunft. Kriege, Klimawandel und Umweltverschmutzung haben ihren Tribut gefordert. Unsere heutige Zivilisation wurde vom Erdboden getilgt. Aus ihren Ruinen sind neue Hochkulturen entstanden. Neue Königreiche regieren nun die Welt. Für viel...