20. Kapitel - Knochen und Haut

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Das Erste, was ich sah als ich die Augen aufschlug, war ein unglaublich helles Licht. Ich blinzelte verwundert und drehte den Kopf auf die andere Seite. Nur weg von dem Licht.
Es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass es sich um eine OP-Lampe handelte, die mir volle Kanne ins Gesicht blendete. Ich lag auf einer unbequemen, dunkelblauen Arztliege, umgeben von unzähligen Maschinen und Monitoren, die Kurven und Graphiken zeigten, mit denen ich nicht so wirklich etwas anfangen konnte. Dennoch hatte ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
Als ich an mir herabblickte, bemerkte ich, dass man eine hellblaue Plastikplane über mir ausgebreitet hatte. Als ich versuchte sie abzustreifen leistete sie überraschend zähen Wiederstand. Ich konnte es zwar nicht sehen, aber es fühlte sich an, als wären meine Hände am Bett befestigt. Ich wollte es gerade ein zweites Mal versuchen, als eine sanfte Stimme von links an mein Ohr drang.

"Nein, wir sollten lieber auf Nummer sicher gehen. Die paar Wochen wird sie schon durchhalten. Um mögliche Spätfolgen oder das was danach auch geschieht brauchen wir uns in diesem Fall nicht zu kümmern. Falls es für sie überhaupt ein "Danach" für sie gibt.
Ich plädiere für Maßnahme C, aber mit PCT-83,7 und G8-74. Und zwei Prozent mehr. Mindestens."

Ich drehte den Kopf in Richtung der Stimme, aber alles, was ich sehen konnte war ein unübersichtliches Gewirr aus Kabeln und Schaltflächen. Nicht wenige von ihnen mündeten in komischen, birnenförmigen Auswüchsen. Ich hatte keine Ahnung wozu sie dienen könnten und war vorerst auch gut so.
Die hochgewachsene Freu in dem weißen Arztkittel hatte mir in ein paar knappen Worten erklärt, sie meinen Körper den Vorstellungen der Rabenkinder entsprechend anpassen würden und optimal auf den Wettlauf vorbereiten. Dann hatte sie eine kleine rosa Plastikkanüle in meinen Arm gestochen und mit einer Spritze ein paar Milliliter von einer weißlichen Substanz hineingewagt. Ich erinnere mich noch daran, dass es furchtbar gebrannt hatte. An alles, was in der Zwischenzeit passiert ist, kann ich mich nicht mehr erinnern.

Die Stimme erklang erneut. Wer war das?
Ich versuchte mich ein wenig weiter aufzurichten, um durch einen Spalt zwischen zwei Maschinen hindurchzusphäen.
Und tatsächlich, an der gegenüberliegenden Wand stand eine kleine Gruppe blau bekittelter Gestalten mit Mundschutz und Haarhäubchen, die wie Besessene auf einander einredeten. Direkt hinter ihnen befand sich ein riesiger Monitor. Und das Bild, das er zeigte ließ meine Atmung für einen Moment aussetzten.
Das war mein Gesicht!
Ehe ich mir so recht einen Reim darauf machen konnte, ließ einer der Blaukittel seine Finger über das Abbild meiner Stirn gleiten und das Bild begann sich zu verändern. Erst fing die Haut an immer durchsichtiger zu werden, dann wurden Muskeln und Sehnen sichtbar bis nichts blieb als blanker Knochen. Knochen, der sich bewegte.
Ich blinzelte ungläubig.
Aber es stimmte.
Die Knochen veränderten tatsächlich ihre Form. Langsam nur, aber unaufhörlich.
Leute, ich habe weiß Gott nicht viel Ahnung von Medizin, aber dieser Anblick jagte mir dennoch einen heiden Schreck ein.
Zurecht, würde ich mal sagen.
Und während die Angst in meinem Herzen unaufhaltsam wuchs, wurde der Schädel immer widernatürlicher. Bis er ganz zuletzt gut in ein Horrorfilmszenario gepasst hätte. Gruselig und völlig deformiert.
Und irgendwie erinnerte er mich an etwas.
Aber ich kam nicht darauf was.

Wieder ließ der Blaukittel seine Finger über den Bildschirm gleiten. Ich spannte meine Bauchmuskeln an und versuchte mich noch ein winziges Bisschen weiter aufzurichten, um zu sehen was er da machte. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen.
Plötzlich strahlte die Lampe gefühlte drei Stufen heller, die Geräte über meinem Kopf fingen an zu surren und Kabel senkten sich auf mich herab. Aus ihren verdickten Enden begannen silbern blitzende Gegenstände zu gleiten. Aufgrund des hellen Lichts dauerte es einen Augenblick bis ich sie identifizieren konnte. Es waren unzählige kleine Messer, Pinzetten und anderes grausiges Zeug. Meine Augen starrten wie gebannt auf das blitzende Metall und ich konnte mein Herz wie wild pochen hören.
Mein Gehirn schrie förmlich: Lauf!, das ja, aber ich konnte dennoch keinen einzigen Muskel rühren, geschweige denn die Messer aus den Augen lassen. Und sei es auch nur für eine Sekunde.
Dumm, ich weiß. Aber es ist nun einmal so gewesen.

Ich war so sehr auf die Messer fixiert, dass ich erst gar nicht bemerkte, wie sich mir jemand näherte. Noch während mein Gehirn vollauf damit beschäftigt war sich selbst lahmzulegen, spürte ich mit einem Mal einen brennenden Schmerz im linken Arm.
Wie in Zeitlupe drehte ich den Kopf und sah gerade noch wie einer der Blaukittel eine weißliche Flüssigkeit in meinen Arm injizierte. Als er meinen Blick bemerkte nuschelte er durch seinen Mundschutz:

"Bist früher aufgewacht als gedacht. Liegt wohl an dem kleinen Idioten, der dir dein Narkotikum verpasst hat. Aber keine Angst, du bist jetzt in den Händen von Experten."

Er zog die Spritze aus meinem Arm und drückte mir mit schwungvoller Bewegung eine Atemmaske auf die Nase. "Schlaf schön."
Reflexartig hielt ich die Luft an und warf energisch den Kopf hin und her, um das Ding abzuschütteln. Doch noch während ich mich verzweifelt aufbäumte und wand wurden meine Bewegungen immer schwächer und langsamer. Die Injektion.
Ich musste wach bleiben, durfte nicht einschlafen!
Auch wenn ich beschlossen hatte zumindest halbwegs mitzuspielen, hieß noch lange nicht, dass ich alles mit mir machen lassen würde. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich stärker war als sie glaubten...
Doch mein Wiederstand begann mit jeder verstreichenden Sekunde zu bröckeln. Auch wenn ich es noch immer nicht ganz wahrhaben wollte, so wusste ich doch tief in meinem Inneren, dass es zwecklos war. Man konnte sich den Rabenkindern nicht widersetzen. Zumindest nicht so.
Außerdem war ich die ständige Anspannung so leid. Müde ließ ich mich in die Kissen sinken und atmete ein. Ließ das Gasgemisch in meine Lungen strömen.
Die Dunkelheit umhüllte mich beinahe sofort.
Sie versprach Frieden.
Wenigstens für eine Weile...

Ich blinzelte. Grelles Neonlicht stach mir in die Augen und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte ausgestopft. Träge flossen die Gedanken durch mein Bewusstsein.
Wo war ich?
Undeutliches Gemurmel schwebte in meinem Kopf umher.
Ich blinzelte erneut. Alles war so undeutlich. Drei verschwommene Gestalten beugten sich über mich. Sie alle hatten alle blaue Kittel an, soweit ich das erahnen konnte. Und Haarhäubchen. Ich kicherte leise.
Einer von ihnen streckte seine Hand aus und nahm es ab. Ein Wust regenbogenfarbener Haare kam darunter zu Vorschein. Sie sahen so flauschig aus. Ich kicherte erneut und wollte die Hand danach ausstrecken. Doch schon bei der kleinsten Bewegung
spannte sich meine Haut zum Zerreißen und ein stechender Schmerz fuhr durch meinen gesamten Oberkörper. Erschrocken japste ich nach Luft und versuchte steif wie ein Brett zu bleiben. Nur-Nicht-Bewegen.
Aber selbst das Liegen bereitete mir unglaubliche Schmerzen. Und jeder Atemzug dehnte meine Haut, sodass es sich anfühlte, als stächen tausend kleine Nadeln in mein Innerstes. Und so plötzlich wie der Schmerz kam auch die Erinnerung zurück.
Nur mit Mühe konnte ich ein weiteres scharfes Einatmen verhindern.
Die öffentliche Begutachtung durch die Rabenmutter, der Schnösel, die Spritze ...

Aber das erklärte noch lange nicht, warum ich solche Schmerzen hatte.
Meine Haut schien auf einmal drei Nummern zu klein zu sein. Mindestens.
Und mein ganzes Gesicht sowie fast alle anderen Körperteile fühlten sich rau und wund an. Was hatten sie mit mir gemacht?

Ich wusste nicht, ob ich wirklich eine Antwort darauf haben wollte.
Vor allem nicht, da ich mich unweigerlich an jenen Tag erinnert fühlte, als ich die Nachbarin vom Balkon hatte stürzen sehen. Erst gestern Nacht hatte ich wieder von ihr geträumt. Der Knall. Das Bersten von Glas. Flammen, die aus dem Fenster schlugen und eine Frau die eingehüllt in Feuer und funkelnde Glassplitter schreiend dem Boden entgegenstürzte. Das trockene Knacken, als sie direkt vor meinen Füßen aufkam. Der starre Blick. Ihre bräunlich rote Haut die einigen Stellen aufgeplatzt war wie die Pelle eines Würstchens. Und der Geruch nach gebratenem Fleisch.

Noch Wochen danach hatte mich gefragt, wie ich mich gefühlt hätte, wäre ich an ihrer Stelle dort gelegen. Die Knochen gebrochen, über und über mit Schnittwunden bedeckt und die Haut von der Hitze zusammengeschrumpelt. Dennoch hatte ich wohl immer ziemlich danebengelegen. Erst jetzt glaubte ich so in etwa nachvollziehen zu können, wie sie sich gefühlt haben musste. Und lasst euch sagen, das ist kein Spaß.

Ich keuchte auf, als Finger mich sanft am Oberarm berührten. Es war einer der Ärzte. Er lächelte aufmunternd und hielt mir einen kleinen Spiegel hin. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und blickte hinein. Doch schon im selben Moment wünschte ich, ich hätte es nicht getan.

Im Zeichen des Raben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt