Irgendwann entdeckte ich Benjamin. Er hielt sich dicht hinter einem älteren Herrn von gigantischen Ausmaßen. Als er mich bemerkte legte er einen Finger auf den Mund und deutete irgendwo hinter mich. Dort linste gerade ein kleines Mädchen suchend unter den ausladenden Rock einer Blondine, was der Mann an ihrer Seite völlig falsch zu interpretieren schien.Ich zwinkerte Benjamin verschwörerisch zu. Er lächelte schelmisch zurück. Er war so bemerkenswert sorglos, so unschuldig. An so einem Tag hätte ich nie so leichtfertig Verstecken spielen können.
In diesem Moment ertönte ein leises Knirschen. Der Boden unter meinen Füßen ruckte und alles drehte sich. Noch bevor ich so ganz realisierte was los war, folgte ein zweiter Ruck und mit einem Mal stand alles wieder still.
Ich brauchte erst einmal eine ganze Weile, um mich zu orientieren. Irgendwie hatte sich mein gesamtes Blickfeld verschoben. Zaarah gab jetzt vor mir mit ihren Hip-Hop Kenntnissen an. Aber, wenn mich nicht alles täuscht, dann hatte sie gerade eben noch hinter mir gestanden. Und was Mark anging, so musste ich den Kopf nun ein wenig drehen, um ihn sehen zu können. Dabei war ich mir ziemlich sicher, ihn wenige Augenblicke zuvor noch neben mir gesehen zu haben.
Verwirrt versuchte ich eine plausible Erklärung dafür zu finden. Nur, dass das gar nicht so leicht war. Im Ernst. Mir persönlich fielen nur zwei Möglichkeiten ein. Möglichkeit Nummer eins: übermäßiger Alkohol- oder Drogenkonsum. Möglichkeit Nummer zwei: ernsthafte psychische Störungen. Aber das zählte beides nicht so richtig. Denn Möglichkeit Nummer eins, traf in meinem Fall hoffentlich noch nicht zu und Möglichkeit Nummer zwei, wollte ich nicht so wirklich wahrhaben. Wobei, wer sich einbildet von Statuen beobachtet zu werden...
Äh, Leute, habt ihr vielleicht noch irgendwelche alternativen Theorien? Solche, die nicht unbedingt sagen wollen, dass ich nicht mehr so ganz alle Tassen im Schrank habe?Ich fing schon an, ernsthaft an meinem Geisteszustand zu zweifeln, als der Boden erneut ruckte. Stärker diesmal.
Eigentlich hätte ich nun darauf gefasst sein sollen, aber irgendwie kam der zweite Ruck für mich noch überraschender als der erste. Ich bemühte mich nach Kräften, mein Gleichgewicht zu halten, landete aber dennoch mit einem dumpfen Plumps auf dem Boden."Alles in Ordnung, Mia?"
Ich nickte zögerlich. Tief durchatmen. Ruhig bleiben.
Noch bestand kein Grund zur Sorge. Zumindest diesbezüglich nicht.Ein kleines Kind klammerte sich an das Bein seiner Mutter.
"Mami, was ist das?"
Tja, gute Frage. Dort wo ich eben noch gestanden hatte, klaffte jetzt ein kreisrunder Riss. Im ersten Moment wollte meinen Augen nicht so recht trauen. Ich meine, normalerweise bilden sich doch nicht einfach so Risse im Boden. Schon gar nicht von einer Sekunde auf die andere. Der war vorhin noch nicht dagewesen, ganz sicher. Wie gebannt starrte ich auf die Furche, die immer tiefer zu werden schien.
Für einen Moment herrschte angespannte Stille.
Ich konnte mein Herz schlagen hören.
Dann löste sich der Kreis vom restlichen Boden und begann, entgegen aller Schwerkraft, sich langsam in die Lüfte zu erheben. Ganz so, als hätte er plötzlich ein Eigenleben entwickelt......einen Zentimeter... zwei...
...ich saß immer noch wie versteinert auf dem Boden...
...fünf Zentimeter... acht...
...da war etwas unter der Bodenplatte...
...zehn Zentimeter... fünfzehn... zwanzig...
...es war ein Arm, aber kein menschlicher.
...fünfundzwanzig Zentimeter...
...er war ganz aus Plastik und Metall. Er schob die Platte nach oben...
...dreißig Zentimeter...
...inzwischen war ein stilisierter Kopf zu sehen und der Anfang eines Rumpfes. Ganz leise hörte ich ein kaum vernehmbares Summen und Klicken...
...ein Meter...
...mehrere Leute sogen scharf die Luft ein...
...zwei Meter...
Inzwischen war es unverkennbar. Das war kein Mensch. Sondern ein Roboter. Ein Kampfroboter.
Für einig Sekunden hockte er einfach nur zusammengekauert an Ort und Stelle, regungslos wie eine Statue. So als würde er auf etwas warten. Dann begann er sich zu bewegen und trat mit erstaunlich flüssigen Bewegungen aus dem Loch.
Die Leute wichen erschrocken zurück. Aber nicht nur die in meiner Nähe, sondern überall. Erst jetzt bemerkte ich, die anderen Kampfroboter, die sich reihum aus dem Boden erhoben hatten. Ängstlich kroch ich ein Stück zurück. Ich wollte einfach nur weg, traute mich aber nicht, die Roboter aus den Augen zulassen. Und sei es auch nur für eine Sekunde.
Rückblickend betrachtet, war das natürlich völlig idiotisch.
Jemand packte mich unter den Achseln und stellte mich wieder auf die Füße. Es war Mark. Unter anderen Umständen hätte ich vermutlich irgendetwas Bissiges erwidert. Zum Beispiel, Danke, aber ich bin durchaus in der Lage alleine aufzustehen.
In diesem Augenblick aber, war ich einfach nur froh, wieder auf eigenen Füßen zu stehen und zu wissen, dass mich jemand beschützen würde. Was auch passiert.
Blöd nur, dass auch dieser Gedanke ist im Nachhinein einfach nur dumm war. Mark hätte höchstens versuchen können mich zu beschützen. So wie ich ihn kannte, hätte er das vermutlich sogar getan, aber trotzdem es stand natürlich keineswegs in seiner Macht einen Kampfroboter zu besiegen oder gar den Willen der Götter zu brechen. Leider.
Oh, apropos Adelige, die hatte ich den ganzen Abend über noch kein einziges Mal hier gesehen. Dabei stand doch in jedem Lehrbuch, dass der Rabenflug die Menschen dieser Stadt vereinte. An Tagen wie diesem, zählten Klassenunterschiede und Reichtum nichts mehr, alle Menschen waren gleich. Aus diesem Grund feierten auch alle miteinander am selben Ort. Arm mit Reich und Alt mit Jung.
So zumindest die Theorie. In echt nahmen sich die Rabenkinder vermutlich von dieser Regelung aus. Genauso, wie auch noch nie in der Geschichte Alte, Kranke oder Mitglieder einflussreicher Familien von den Raben als Champion auserwählt worden waren. Diese Ehre wurde stets Leuten aus ärmeren Kreisen zuteil. Leuten, deren Verlust keine unangenehmen Konsequenzen nach sich zog.Kurzum, Leute, wie du und ich.
Na ja, vermutlich mehr solche wie ich.

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Im Zeichen des Raben
Science FictionIn ferner Zukunft. Kriege, Klimawandel und Umweltverschmutzung haben ihren Tribut gefordert. Unsere heutige Zivilisation wurde vom Erdboden getilgt. Aus ihren Ruinen sind neue Hochkulturen entstanden. Neue Königreiche regieren nun die Welt. Für viel...