31. Kapitel - Timing

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Es ist vergleichsweise leicht etwas zu zerstören, aber ungleich viel schwerer, an dessen Stelle auch wieder etwas Neues zu errichten. Schier unmöglich ist es jedoch, das Neue auch zu bewahren und für die Nachwelt zu erhalten...

Zaarah blickte unruhig auf die Uhr. Noch neunzehn Minuten, dann konnte sie endlich gehen. In fünfunddreißig Minuten musste sie schon in Zachary's Kneipe sein. Das war schier unmöglich. Und doch durfte sie sich auf keinen Fall verspäten. Timing war das A und O, das hatte man ihr oft genug eingebläut.
Den halben Tag über hatte sie sich Gedanken gemacht, wie sie unauffällig früher verschwinden könnte. Sie hatte alles erdenkliche von 'einfach schwänzen' bis 'sich krankstellen' in Betracht gezogen. Aber es war einfach nichts dabei gewesen, was ihre Lehrer überzeugen könnte sie frühzeitig nach Hause zu schicken und gleichzeitig ihre Mutter da raus halten würde. Wenn die davon Wind bekam, könnte sie sich vergleichbare Aktionen innerhalb der nächsten zwei Monate getrost abschminken.

Wie sie es auch drehte und wendete, sie musste bleiben. Zwanzig wertvolle Minuten.
Sie sollte arbeiten und die Zeit sinnvoll nutzen.
Zu viel würde sie heute Abend, nach der Schule, nicht mehr kommen. Da war zum einen das Treffen und zum anderen stand auch die Live-Übertragung der Championvorstellung an. Und über die wollte sie beinahe noch weniger nachdenken als über ersteres. Heute würde sie Mia wiedersehen. Zum Letzten Mal. Vermutlich.
Sie nahm ihren Stift in die Hand und versuchte sich auf den Text einzulassen.

...Schier unmöglich ist es jedoch, das Neue auch zu bewahren und für die Nachwelt zu erhalten. Denn alles ist dem Fluss der Zeit unterworfen. Dem ewigen Wandel von Zerfall und Niedergang.
Auch wenn es nicht so scheint, so vermag Wasser mit der Zeit selbst den härtesten Fels zu höhlen...

Zaarah massierte sich mit den Fingern ihre Schläfen und warf ihren plappernden Mitschülern einen genervten Blick zu. Bei dem Lärm konnte sich doch keiner konzentrieren!

Frau Krueger war heute, aus welchen Gründen auch immer, nicht anwesend. Sie fehlte jetzt schon die ganze Woche, dabei war sie sonst nie krank.
Eigentlich hätte das eine produktive Vertretungsstunde werden sollen, in der ein jeder Schüler die gestellten Fragen in seinem Tempo beantworten konnte und nicht allzu viel potentiell produktive Zeit ungenutzt verstrich. Nur dass die Schulleitung irgendwie nicht so ganz bedacht hatte, dass ein großer Haufen Schüler unbeaufsichtigt im selben Raum so ziemlich alles machte außer arbeiten.

Noch dreiunddreißig Minuten.
Seufzend schlug ihr Buch zu und packte Stift und Block wieder in ihre Tasche. Sie war jetzt nicht in der Stimmung drei Seiten lang über die Weisheiten eines alten Mannes nachzusinnen. Auch wenn sie die philosophischen Gedankengänge von John Whitney in der Regel gar nicht mal so schlecht fand. Aber nicht heute und vor allem nicht jetzt.

Noch einunddreißig Minuten. Wenn sie sich verspätete wäre es ihre Schuld, wenn alles aufflog. Aber wenn sie jetzt ginge, dann würde sie es theoretisch noch locker schaffen.
Ob es den anderen auffallen würde, dass sie fehlte?
Und selbst wenn, würde man sie verpetzen?

Prüfend blickte sie erst erneut auf die Uhr, dann sah sie sich im Arbeitsraum um.
Es saßen ohnehin nur noch ein paar ihrer Klassenkameraden artig an den Tischen und erledigten ihre Aufgaben. Die meisten anderen hockten schwatzend in der Ecke. Vermutlich hätte sie dasselbe getan, wäre Mia noch da gewesen.
Sie schluckte. Diese Zeiten waren jetzt vorbei.
Und genau deshalb musste sie so schnell wie möglich gehen. Dieser Quatsch musste ein Ende haben. Sie würde nicht zulassen, dass etwas Vergleichbares noch einmal passierte. Das war sie ihrer besten Freundin schuldig. Und all den anderen.
Zaarah blickte ihre Mitschüler der Reihe nach an. Ob sie es auch verdienten war allerdings eine gänzlich andere Frage.

Sie erhob sich und schulterte vorsichtig ihre Tasche, darauf bedacht möglichst leise und unauffällig zu sein. Als sie den Stuhl an seinen Platz zurückschob schabten die Metallfüße geräuschvoll über den Boden. Beinahe sofort verstummten sämtlich Gespräche im Umkreis. Na super. Jetzt hatte sie die Aufmerksamkeit der halben Klasse. Viel mehr war ja auch nicht mehr hier. So viel zum Thema unbemerkt verschwinden...

Zaarah versuchte sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, als sie ihre Tasche schulterte und langsam den Raum durchquerte.

In der Türe hielt sie noch einmal kurz inne und drehte sich um. Mehrere Blicke folgten ihr interessiert. Es war sonst so gar nicht ihre Art einfach so den Unterricht zu schwänzen. Unproduktive Vertretungsstunde hin oder her. Sie wusste, dass ihr unerwarteter Abgang gleich Thema Nummer eins sein würde. Es sei denn sie könnte ihnen einen plausiblen Grund dafür geben. Nur welchen?
Sie straffte die Schultern und bemühte sich die Blicke ihrer Mitschüler möglichst gelassen zu erwidern. Alles war normal und in bester Ordnung. Dass sie jetzt gehen musste hatte seine Richtigkeit. Sie schluckte, um Zeit zu schinden.

"Mir ... äh... ist nicht gut,"
murmelte sie schließlich zu niemand bestimmtem und presste sich eine Hand auf den Magen.
Es blieb still.
Sie schluckte erneut, geräuschvoller diesmal, drehte sich blitzartig um und rannte hinaus. Als die Türe hinter ihr ins Schloss fiel atmete sie tief durch und lauschte. Hatten die anderen ihr diesen Auftritt abgekauft?

Im Zeichen des Raben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt