1975"Schau mal!" ruft eine süße, mädchenhafte Stimme neben mir. Ich drehe mich um und sehe die kleine Emmy mit einem Bild in der Hand hinter mir stehen. Ich nehme ihr Bild an, betrachte es und schenke ihr dann ein Lächeln.
"Das ist schön, Emmy. Dein Baum ist sehr gut geworden und die Vögel wirken sehr fröhlich." sage ich.
Sie lächelt. "Danke!"
Ich gebe ihr das Bild zurück, sehe sie aber bedeutungsvoll an, damit sie nicht gleich wieder wegrennt. "Emmy, möchtest du jetzt vielleicht helfen, den Tisch zu decken? Es ist gleich Zeit fürs Mittagessen." frage ich sie.
Sie nickt. "Danke, Emmy." sage ich lächelnd und reiche ihr ein paar Becher, die sie auf den Tisch stellen kann.
Es ist kurz vor 12 Uhr. Um diese Uhrzeit holen die meisten Eltern ihre Kinder bei mir im Kindergarten ab. Aber die, die noch bleiben, essen alle gemeinsam zu Mittag. Heute habe ich mit den Kindern Lasagne gemacht. Das essen die Kinder richtig gerne. Unser Kindergarten ist zwar nicht groß, aber er reicht, um alle Kinder unterzubringen. Außerdem haben wir draußen eine riesige Wiese mit ein paar Rutschen, Turngeräten und Baumhäusern. Da spielen die Kinder unglaublich gerne.
"Mrs Young?" höre ich plötzlich eine Stimme nach mir rufen. Sie kommt vom Eingang des Spielzimmers unseres Kindergartens. Ich erkenne die Stimme. Es ist Myrtle Sinclair, die Luna des örtlichen Werwolfrudels. Reizende Frau. Wo sie hingeht verwelken die Blumen.
Ich komme ihr entgegen. "Ja, Mrs Sinclair?"
"Mein George hat einen Fleck auf seiner Hose! Und seine Jacke ist zerknittert! Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, dass Sie meinem Sohn Disziplin beibringen sollen! Sie haben drei Sekunden Zeit sich zu erklären!" meckert sie mich an.
Ich halte drei Finger hoch.
"Mrs Sinclair, Ihr Sohn ist vier Jahre alt und von spielenden Gleichaltrigen umgeben." Ich nehme den ersten Finger wieder runter. "Dank Ihrer Wünsche ist er meistens der Einzige, der nicht mitspielen darf, was ihn zum Außenseiter macht." Ich nehme den zweiten Finger runter. "Und im Übrigen widersprechen Ihre Wünsche unseren pädagogischen Erziehungsmethoden." Ich nehme auch den dritten Finger runter und beende damit meinen Vortrag.
Myrtle Sinclair scheint leider nicht wirklich überzeugt zu sein. "Mrs Young! Was erlauben Sie sich, so mit mir zu reden! Ich bin die Luna dieses Rudels! Sie haben mir gegenüber Respekt zu zeigen! Und wenn ich sage, mein Junge braucht mehr Disziplin, dann braucht er mehr Disziplin! Verstanden?"
"Angenommen ich würde ins Rudelhaus spazieren und mich an Ihren Schreibtisch setzen: würde mich das Rudel dann den Posten der Luna übernehmen lassen?" wechsele ich das Thema.
Myrtle Sinclair rümpft die Nase. "Wo kämen wir denn da hin? Das ist eine seriöse Tätigkeit. Eine Frau braucht Zeit und Übung, um sie vollständig zu beherrschen."
"Stimmt. Und genau dasselbe gilt für den Beruf der Kindergärtnerin und Pädagogin. Also, wären Sie bitte so freundlich und ließen mich meinen Beruf so ausüben wie ich ihn gelernt habe? Dann wäre ich Ihnen sehr dankbar." sage ich.
Sie sieht mich an als hätte ich gerade Essig auf ihre Sahnetorte geschüttet. Angewidert und ein bisschen fassungslos. Auch wenn sie meine Einstellung eigentlich mittlerweile gewohnt ist. Gleichzeitig erkenne ich, dass ihr langsam die Argumente ausgehen. Tja, wenn ich mir erstmal eine Meinung erstellt habe, wird man die so leicht nicht mehr los.
Naserümpfend streckt sie sich. "Mit Ihnen zu reden ist pure Zeitverschwendung, Mrs Young! Aber das hätte ich mir ja denken können! Sie werden von mir hören!" sagt sie und stürmt aus dem Raum.
Ich gebe einen kleinen Seufzer von mir und gehe zurück zu den Kindern. Der Kindergarten, in dem ich arbeite, hat ein kleines Haus, in dem wir essen und spielen können und eine große Wiese mit verschiedenen Gerüsten drauf vor der Tür. Wir haben etwa 90 Kinder, die hier täglich hinkommen, aufgeteilt in drei Gruppen. Ich leite die eine, die anderen beiden werden von zwei anderen Frauen geleitet. Meine Gruppe besteht aus 31 Kindern, von denen jetzt noch 11 zum Mittagessen geblieben sind.
Die Sache mit dem Mittagessen im Kindergarten war die Idee meiner Kollegin, Agatha Levi. Sie hatte ein paar Jahre lang versucht, ihre Idee durchzusetzen, aber ohne Erfolg. Aber mit der Zeit hat sie immer mehr Unterstützung erhalten, unter anderem von meinem Mann und mir. Daher wurde das Ganze als Projekt gestartet. Und als es nach drei Monaten weiterhin erfolgreich war und viele Eltern es befürworteten, wurde die Mittagszeit ein fester Bestandteil unseres Kindergartens.
Nach dem Mittagessen kommen nach und nach die Eltern und holen ihre Kinder ab. Die Letzte, die am Ende noch hier ist, ist die kleine Emmy. Wie üblich. Ich hole ein Buch aus dem Regal und lese ihr daraus vor, wie ich es oft tue. Sie lehnt sich währenddessen an meinen Arm.
Es ist schon nach vier als Emmys Mutter endlich kommt.
"Dürfte ich kurz mit Ihnen reden?" frage ich sie höflich. Sie hebt die Augenbrauen und nickt. Wir entfernen uns ein paar Schritte von Emmy, die sich gerade die Schuhe zubindet.
"Hören Sie, Mrs Kross, der Kindergarten soll um drei Uhr geschlossen werden. Länger gehen unsere Betreuungszeiten nicht. Ich habe es satt, dass Sie fast jeden Tag dafür sorgen, dass Emmy als Einzige noch hier auf Sie warten muss, während alle anderen schon nach Hause gehen! Das ist absolut inakzeptabel! Und mehr als unfair Emmy gegenüber!" zische ich sie entschlossen an.
"Ich war beschäftigt!" zischt sie zurück.
"Ach ja? Womit?" frage ich. Sie ist still. Ich seufze.
"Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen nicht glaube! Sie haben mir selber gesagt, dass Sie Ihren Job aufgegeben haben, um sich um Emmy kümmern zu können! Pflegebedürftige Verwandte haben Sie nicht und Ihr Mann und Ihre Freundinnen sind alle entweder mit ihren eigenen Kindern oder ihren Jobs beschäftigt. Ich denke, wir beide wissen, warum Sie wirklich immer so spät kommen!" erwidere ich flüsternd.
Sie ist für einen Moment still. Schließlich sagt sie: "Es ist eben nicht einfach für mich, in Ordnung?"
Ich schüttele missbilligend den Kopf. "Nein, das ist nicht in Ordnung! Sie wussten es! Als Sie einen Omega geheiratet haben, wussten Sie, dass das dazu führen kann, dass Ihr Kind ebenfalls ein Omega sein wird! Emmy ist ein gutes, kluges Mädchen! Für ihren Status kann sie nichts! Also lassen Sie sie nicht dauernd hier sitzen und kümmern sich um sie! Sie sind schließlich ihre Mutter, verdammt!" zische ich.
Mrs Kross sieht weg. Für einen Moment stehen wir da und sie weicht meinem Blick aus.
"Können wir los, Mom?" höre ich Emmys süße Stimme von der Seite. Ich sehe sie an. Sie sieht erwartungsvoll zwischen mir und ihrer Mutter hin und her. Mrs Kross wirft mir noch einen raschen Blick zu, bevor sie sagt: "Ja, ist gut, Schatz. Komm."
Die beiden verlassen den Kindergarten. Ich hole meine Sachen und schließe den Kindergarten ab. Ich habe Zuhause noch Hausarbeit zu erledigen. Und heute Abend kommt Frances zu Besuch. Dabei möchte ich mit ihr und Will über Emmy reden. Vielleicht haben sie ja eine Idee, wie ich in der Angelegenheit irgendwie helfen kann.
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Die Mate des Kriegers
WerewolfAnfang der 70er Jahre erkennt ein mächtiger Werwolfkrieger eine junge Menschenfrau als seine Mate. Er nimmt sie mit und sie lebt von nun an bei ihm. Allerdings ist sie sehr stur und liebt nichts mehr als ihre Freiheit. Außerdem hatte sie, bevor ihr...