Kapitel 36

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2015

Mein Leben hat sich vor drei Jahren stark verändert. Erst habe ich meinen Mann verloren, dann entschied ich, dass das alte Haus seiner Großeltern zu groß war, um dort alleine zu leben. Ich überließ es meinem Sohn und seiner Frau, dass sie dort mit ihrer Tochter leben können.

Momentan wohne ich in einer kleinen Wohnung, gemeinsam mit meiner alten Freundin Linda. Sie war gerade auf der Suche nach einem neuen Job als sie von meiner Situation gehört hat. Sie besuchte mich in Idaho und bewarb sich auf eine Stelle als Journalistin hier in der Nähe. Sie wurde angenommen und da sie einen Neustart wollte, entschied sie sich, hier zu bleiben und mit mir gemeinsam eine Wohngemeinschaft anzufangen.

Im Moment sind wir in der Bar eines Kinos. Linda hat mich mit hierhergeschleift. Zwei einigermaßen gutaussehende Männer in unserem Alter sitzen bei uns. Einer davon ist Lindas Date, den anderen hat sie für mich mitgebracht. Wir haben uns gemeinsam einen Film angesehen und trinken jetzt alle ein Glas Wein. Ein ganz netter Abend, eigentlich. Auch, wenn ich mit meinem Date irgendwie nicht richtig in Verbindung komme. Aber nun gut, ein netter Abend ist es trotzdem.

"Also, Gerda, ich habe gehört, du bist Kindergärtnerin?" fragt mich Al, mein Date.

Ich nicke. "Seit mittlerweile 38 Jahren. Ich möchte auf jeden Fall noch weitermachen, bis ich die 40-er Grenze knacke, eventuell 45. Danach heißt es Rente."

"Wow, das ist lange. Ich selber bin Banker. Dadurch verdiene ich gut. Wirklich gut." sagt er mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

Ich vermute, er versucht gerade, als begehrenswert rüberzukommen, aber irgendwie wirkt er durch seine Andeutung auf mich oberflächlich. Und ein bisschen verzweifelt vielleicht. Möglicherweiseist er einsam. Was mir zwar für ihn leidtut, ihn für mich aber nicht attraktiver macht.

Also sage ich nur höflich: "Das freut mich für dich."

Der Rest des Abends verläuft ruhig. Als ich danach zusammen mit Linda zurück zu unserer Wohnung gehe, spricht sie mich auf Al an. "Glaubst du, das mit dir und ihm könnte was werden?"

"Nein. Es war ein schöner Abend, aber ich verzichte auf ein zweites Date." antworte ich gleichmütig.

Linda seufzt. "Das war jetzt schon das fünfte Date, das du nicht fortsetzen wolltest. Ich verstehe ja, dass es schwer für dich ist, aber Will ist seit mehr als drei Jahren tot. Er würde bestimmt nicht wollen, dass du den Rest deines Lebens einfach nur traurig dasitzt."

"Das weiß ich doch, Süße. Keine Sorge, es geht hier nicht um Will." versichere ich ihr mit einem Lächeln, "Ehrlich gesagt finde ich es eigentlich ganz schön, single zu sein. Nachdem ich mich als 15-Jährige in Will verliebt habe, war ich etwa 40 Jahre lang nicht mehr single, die meisten Jahre davon verheiratet. Momentan habe ich keine Verpflichtungen gegenüber irgendjemandem Zuhause - na gut, außer dir - und muss mich um niemenden kümmern außer mir selbst. Natürlich werde ich irgendwann wieder eine echte Beziehung haben wollen, aber vorerst hätte ich gerne noch ein bisschen mehr Zeit für mich."

Linda streicht sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. "Das verstehe ich nicht. Ich finde, es ist immer besser, einen guten Mann an der Seite zu haben als allein zu sein. Aber wenn du meinst, kann ich dich nicht davon abhalten."

Ich stimme ihr zu, amüsiert und etwas stolz. Wir gehen weiter. Ich weiß, dass meine Freunde und meine Familie sich oft Sorgen um mich machen, aber ich lüge nicht wenn ich sage, dass es mir gut geht. Es hat lange gedauert, bis ich es sagen konnte ohne zu lügen, aber heute stimmt es. Größtenteils, jedenfalls.

Als wir beim Park vorbeikommen, sehe ich auf einer Parkbank jemanden schlafen. Einen Obdachlosen, wie es scheint. Einen bedeutend bekannt aussehenden Jemand.

"Hey. Andy?" frage ich ihn verwundert.

Der dunkelhaarige Mann dreht sich zu mir. "Mrs Young?"

"Ja, ich bin's. Meine Güte, was ist passiert? Wieso schläfst du auf einer Parkbank?" Meine Verblüfftheit ist echt. Ich weiß, dass Andy zwei Geschwister und einen Vater hat. Und ich weiß, dass er vor einer Woche wegen guter Führung vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde. Nicht wegen dem Banküberfall; der ist schließlich schon länger her. Nein, diesmal lag es an einer Prügelei, für die er nur ein paar Tage lang eingelocht wurde.

Er blickt nach unten, vermeidet meinen Blick. "Mein Bruder hat mich rausgeschmissen. Hat gesagt, ich bin eine Schande für unsere Familie. Meine Schwester ist weggezogen und mit meinem Vater kann ich gerade nicht. Hab keine Bleibe finden können."

Für eine Minute bin ich sprachlos, Mitgefühl, Ungläubigkeit und Wut blubbern in mir hoch. Von seiner eigenen Familie im Stich gelassen, was fällt denen ein?! Es dauert nicht lange, da straffe ich entschlossen meine Schultern und treffe eine Entscheidung.

"Steh auf. Du wirst nicht auf einer lausigen Bank schlafen. Ernsthaft, die ist ja kaum gut genug zum Sitzen! Du kommst mit mir. In unserer Wohnung gibt es ein kleines Gästezimmer. Du bist ab sofort unser Gast." sage ich im Befehlston.

Linda zieht an meinem Arm. "Gerda! Was machst du da? Solltest du das nicht wenigstens mit mir absprechen bevor du sowas tust??" flüstert sie hektisch in mein Ohr.

Ich antworte ihr ebenfalls flüsternd. "Betrachte ihn einfach als meinen Gast. Keine Sorge, ich übernehme die Verantwortung hier. Wenn irgendwas passiert, können wir ihn wieder ausladen. Aber glaub mir, Andy ist okay."

Sie seufzt. Als ich mich zu Andrew umdrehe, hebt er seine Augenbrauen. Er scheint skeptisch und unsicher zur selben Zeit. Mit einem entschiedenem Ruck nehme ich seinen Rucksack, den er als Kopfkissen benutzt hat, an mich und nicke ihm zu.

"Hoch mit dir. Unser Gästezimmer wird nicht von selbst zu dir kommen."

Die Mate des Kriegers Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt