21.Kapitel

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Ich ließ meine Hände sinken. Verharrte für eine Ewigkeit in meiner Position, traute mich nicht, mich umzudrehen und in dieses Gesicht zu blicken. Derek nahm mir die Entscheidung ab, als er mich schließlich an den Haaren zu sich herum riss. Schmerzerfüllt schrie ich auf und versuchte seine Hände wegzuschlagen. Sein Griff verstärkte sich dadurch jedoch nur. Dann presste er mich gegen die Tür. Ich wich seinen Blicken aus, versuchte möglichst an ihm vorbeizuschauen, als er ganz nah an mich heran kam. Da fiel mein Blick auf Sandor im Hintergrund. Er lehnte eingesunken an der Wand. War er tot? Panik erfasste mich wie eine Woge. Lange konnte ich darüber jedoch nicht nachdenken, da Derek meine Haare nach hinten zog und mich somit zwang ihn anzusehen.

»Ich wollte dir das Leben zur Hölle machen«, spuckte er mir entgegen. Ich verzog das Gesicht, als hätte ich in eine Zitrone gebissen. »Was habe ich dir jemals getan?«, hauchte ich fast geräuschlos. »Das weißt du ganz genau«, fauchte er, »Ich wollte dich mal so betrügen, wie du mich betrogen hast«, Ich wusste nicht, über was er redete. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass ich es mal wusste. Ich konnte mich sehr gut an die schlimmsten Jahre meines Lebens erinnern, welche ich aufgrund des Mannes vor mir so nennen konnte. Jedoch nicht daran, aus welchem Grund es so eskalierte. Verwunderlich war dies jedoch nicht, ich hatte bei dem Autounfall, bei welchem mein Vater starb, ein Trauma erlitten. Stimmt, wieso hatte ich mich eigentlich nie wieder gefragt, was überhaupt genau passiert war? Wahrscheinlich wollte ich einfach damit abschließen und vergessen. Ich wäre sogar dankbar gewesen, wenn ich durch das Trauma die gesamten letzten Jahre vergessen hätte.

Ich wusste jedoch, dass Derek Mays Bruder auf den Tod nicht ausstehen konnte. Könnte es was mit ihm zu tun gehabt haben? »Du meinst wegen Theo?«, fragte ich. Keine Sekunde später bemerkte ich meinen Fehler. Derek verzog sein Gesicht noch mehr als sowieso schon, er musste meine Nachfrage als Bestätigung seiner Anschuldigung verstanden haben. »Du leugnest es nicht mal mehr... dann geschah ihm und dir das hier alles zurecht. Und sieh dich an, schon schläfst du mit dem Nächsten - mit deinem eigenen Entführer. Du bist so eine Schlampe«. Der Braunhaarige sprach so ruhig, dass es mir noch mehr Angst machte. Augenblicklich wünschte ich mir, wieder von ihm angeschrien zu werden. »Du tust so, als hätte ich eine Wahl gehabt«, zischte ich. Im Hintergrund konnte ich Sandor aufstöhnen hören. Gott sei Dank. Er lebt noch. Jedoch galt meine Aufmerksamkeit gerade nur dem Mann vor mir.

Erst dann fiel mir auf, was er über Theo gesagt hatte; »Woher weißt du von Theos Zustand?«. Dereks Gesicht verzog sich erneut, diesmal in ein Grinsen. Er machte mir von Minute zu Minute mehr Angst. »Weil ich ihn überhaupt erst in diesen Zustand versetzt habe.«

Fassungslos starrte ich ihn an und in dem Moment kam mir wieder der Tag in den Sinn, an dem May mich weinend anrief und mir mitteilte, dass Theo im Krankenhaus im Koma liegen würde. Angeblich wegen einem Drogengeschäft, welches aus den Fugen geriet. Das war nur kurz vor meinem Verschwinden. Natürlich, es ergab alles einen Sinn. Derek war eifersüchtig auf Theo. Schon immer gewesen. Theo und ich haben uns schon immer wie Geschwister verhalten, als wären wir von einer Familie gewesen. Für Außenstehende und vor allem für den eigenen Freund kam dieses innige Verhältnis sehr wahrscheinlich auf eine ganz andere Weise rüber.

Ja, den eigenen Freund... wie ihr euch es bis jetzt bestimmt schon denken konntet, war ich mal mit Derek zusammen. Er war jedoch nicht immer so. Ich erinnerte mich erneut an früher. Derek wurde früher in der Schule gemobbt, ich war die Einzige, die zu ihm gehalten hatte. Ich kannte ihn zu dem Zeitpunkt nicht wirklich, aber mir ging es ums Prinzip. Ich hasste es, andere Menschen leiden zu sehen.

Von da an wurde ich ebenfalls ausgegrenzt. Das machte mir jedoch nichts, weil ich seitdem jeden einzelnen Moment mit Derek verbrachte, bis sich schließlich etwas zwischen uns entwickelte. Nach einer Zeit aber lernte ich May und ihren Bruder Theo kennen, als sie neu in meine Stadt zogen. Plötzlich waren wir nicht mehr nur zu zweit, sondern zu viert. Ich war mir ziemlich sicher, dass Derek Theo von Anfang an nicht leiden konnte. Er sah ihn als Bedrohung, er verstand unsere Verbundenheit nicht. Theo sah sehr gut aus; er war hochgewachsen, hatte das gleiche blonde Haar wie seine Schwester und blaue, freche Augen. Er war zwar auch mein Typ, aber nie mehr als ein Freund. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, dass Theo und ich einmal mehr als Freunde sein könnten. Das waren wir außerdem auch nie. Derek hat wahrscheinlich irgendwann geglaubt, dass wir eine Affäre miteinander gehabt haben mussten. Dabei hatten wir uns einfach nur ziemlich gut verstanden.

Aber wieso musste er das Theo jetzt antun? Er musste wohl entweder irgendwie davon mitbekommen haben, dass ich mich mal wieder mit ihm treffen wollte, oder aber er nutzte das als Ablenkungsmanöver, damit May mich an dem Tag, an welchem ich dann auch entführt wurde, nicht von der Arbeit abholen konnte. Theo... ich hoffte, dass es ihm gut ging. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. »DU DRECKIGES ARSCHLOCH!« kreischte ich den Braunhaarigen schließlich an. Ich versuchte ihm nicht einmal mehr zu erklären, dass ich nie etwas mit Theo am Laufen hatte. Was würde es ändern? Er würde mir sowieso nicht glauben. Stattdessen spürte ich, wie das Adrenalin nun wie eine Droge durch meinen Körper rauschte. Derek grinste immernoch sein dümmliches Grinsen, was mich noch wütender als sowieso schon machte.

Derek hatte schon immer einen Plan gehabt. Er war raffiniert, intelligent - die gefährlichste Art von Mensch, wenn dieser auf der falschen Seite stand. Er wusste immer was er tun sollte, was er sagen sollte, damit die Dinge nach seinem Willen liefen. Das hatte er auch bei mir gemacht. Er hat immer das Richtige gesagt - mich so manipuliert, dass ich immer bei ihm geblieben bin. Auch wenn er mich geschlagen hat. Auch wenn er mich verfolgt hat. Auch wenn er mir verboten hat andere Menschen als ihn selbst zu treffen.

»Du musst verstehen Rachel... das alles hier war keine Kurzschlussreaktion. Ich habe dich die letzten Jahre im Glauben gelassen sicher zu sein. Auch, als du umgezogen bist. Ich war zwar eine Zeit lang im Gefängnis, aber ich habe andere Wege gefunden in der Zeit nach dir zu suchen und vor kurzem habe ich auch schließlich deine neue Adresse herausgefunden. Du weißt, wie einfach sowas im Darknet geht. Ich kam durch dich auf die Idee, als ich mich daran erinnerte, wie oft du dich in diesem Teil des Internets aufhältst. Ich hab sogar deine Internetseite die wir damals zusammen programmiert haben wiedergefunden, thispersondoesnotexist.onion. Hätte nicht gedacht, dass die sich noch so lange hält, Respekt. Und da habe ich ein Bild von dir gesehen. Es hat mich gewundert, wieso solltest du im Darknet ein Bild von dir selbst hochladen? Dann wurde mir klar, dass das wohl ein Versehen gewesen sein musste und ich wohl einfach zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war. Von dem Zeitpunkt an hatte ich dich immer im Auge. Du warst zu unvorsichtig.«, grinste er. Ja, er hatte immer einen Plan. Und wahrscheinlich hatte er aber auch recht, ich bin viel zu unvorsichtig gewesen, gleichzeitig musste ich wohl einfach wahnsinnig Pech gehabt haben. »Du warst Donotcry666, hab ich recht? Ich habe mich so gut versteckt, dann ist mir dieser dumme Fehler passiert und du hast dann mit dem Bild auf darkposts.onion nach mir gesucht.«

Er nickte. »Aber ich verstehe das nicht, du hattest kein Bild mehr von mir auf deinem Handy, oder was?« »Was denkst du denn? Ich saß wegen dir eine Zeit lang im Gefängnis, die haben mir alles was mich an dich erinnert hat abgenommen. Im Clear Web habe ich dich auch nicht gefunden, weil du mich überall blockiert hattest, oder auf privat gestellt warst. Im Clear Web nach dir suchen durfte ich auch erst garnicht. Das hätte mir die Polizei wieder gegen mich verwenden können. Dann habe ich dich eben im Darknet gesucht, weil ich da immerhin komplett anonym sein konnte. Das einzige, was ich von dir hatte war ein Polaroid, welches ich aber auch nicht verwenden konnte, da es zu undeutlich war. Außerdem, habe ich das dann auch noch im Endeffekt verloren.«, fauchte er. Ja, ich hatte es gefunden. Ich nahm an, dass Derek es verloren hatte, als er um mein Haus herumschlich. »Ich habe, als ich dich endlich gefunden hatte, sogar öfter deinen Arbeitsplatz besucht und mich extra in einige deiner Kurse auf der Uni eingewählt, sodass ich bei dir sein kann.«, lächelte er krankhaft, dieses erstarb jedoch direkt als er fortfuhr: »Du hast mich jedoch nie bemerkt, weil du mit deinen Gedanken entweder bei deinem heißen neuen Professor, oder Sandor, oder Theo, oder weiß Gott bei wem noch warst.« Ich überlegte fieberhaft. Nein, aktiv bemerkt hatte ich ihn tatsächlich nie... jedoch fiel mir ein kleines Detail wieder ein. Ein Junge, ein braunhaariger. Vertieft hinter seiner Zeitung, als ich arbeitete. Ich hatte ihn gesehen, nie von vorne, aber ich wusste, dass er mir irgendwie bekannt vorkam. Der braunhaarige Junge, welcher in der Uni ein paar Reihen vor mir saß, so konzentriert den Unterricht verfolgte, dass er nicht einmal einen Blick nach hinten warf, mir trotzdem aber bekannt vor kam. War das Derek gewesen?

»Ich wollte dein Leben zur Hölle machen Rachel. Ich nahm mir zuerst deine liebsten Mitmenschen vor, weil ich wusste, dass dich das am meisten treffen würde.« »Du redest von Theo und von May, hab ich recht? May hast du durch Theos Unfall psychisch genauso mitleiden lassen. Und mich auch. Das wusstest du.«

»Ja...«, er stockte kurz, hielt für einen Moment inne, bevor er wieder sein Gesicht zu einer Fratze verzog, »Und von deinem Vater.«

This Person Does Not ExistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt