26.Kapitel

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Als ich in das kleine Haus eintrat, empfing mich sofort ein vertrauter Geruch. Es roch überall nach Sandor. Trotz dem, dass Loreen sagte, dass Sandor schon seit mehreren Tagen nicht mehr zuhause gewesen war, musste ich augenblicklich nach ihm Ausschau halten, erblickte jedoch nur ein Wohnzimmer mit zwei Sofas und einem kleinen Fernseher. Die Einrichtung war sehr schlicht, aber im Vintage-Stil. Irgendwie mochte ich das. Pflanzen türmten sich auf Regal und Boden, wodurch das Zimmer fast den Anschein vermittelte, mit dem Draußen eins geworden zu sein. Von dem Wohnzimmer gingen drei Türen ab, welche jedoch geschlossen waren. Ich ging von Schlafzimmer, Kinderzimmer und Badezimmer aus. Ein paar Meter neben den Sofas, in einem offenen Raum, befand sich die Küche. Ebenfalls im selben Stil gehalten.

Das erste was ich tat war mich auf ein Sofa zu werfen, welches so stark federte, dass ich fast im selben Moment wieder wegkatapultiert geworden wäre. Im Augenwinkel sah ich Loreen schmunzeln. Ihrem Blick nach zu urteilen war ich wohl nicht die Einzige der das schonmal passiert war. Nach kurzem zögern ließ sie sich neben mir auf das Sofa fallen und schaute mich mit großen Augen an. »Willst du mir vielleicht etwas von dir erzählen?«, fragte ich sie sanft nach einer kurzen Pause.

Ihre Augen begannen zu glänzen, als wäre sie das nie zuvor gefragt worden. Dann redete sie plötzlich wie ein Wasserfall los, erzählte mir von ihrer Grundschule und wie sie dort jedoch noch keine Freunde gefunden hatte. Dass sie es liebte zu malen und zu tanzen und mit Sandor angeln zu fahren. Dass sie letztens erst versucht hat Fahrrad fahren zu lernen, jedoch hingefallen ist und sich das Knie aufgeschürft hatte. Ich unterbrach sie nicht, hörte ihr nur lächelnd zu. Sie wirkte froh darüber, mit jemandem reden zu können. Sie schien auch keine Antwort zu erwarten, eine Zuhörerin reichte ihr.

Der Tag verging wie im Flug; als es dämmerte, hatten wir fast jedes der zehn Brettspiele, die die Scotts zuhause besaßen mindestens einmal gespielt. Ich verstand mich super mit der Schwarzhaarigen. Und wie ich so in Loreens strahlend grüne Augen sah, kam bei mir auf einmal ein Beschützerinstinkt auf, als wäre sie meine eigene Tochter oder aber eine kleine Schwester. Sie schien mich auch zu mögen. Gerade kuschelte sie sich an mich und blinzelte erschöpft. »Bist du müde?«, fragte ich sie sanft. Als Antwort bekam ich ein Gähnen zurück. Ich grinste. »Komm, ich bring dich ins Bett.« Ich hob sie hoch und trug sie auf beiden Armen in Richtung eine der drei Türen, die ich zur Auswahl hatte. Meine erste Wahl entpuppte sich sogleich als die richtige. Belustigt stellte ich fest, dass Loreen bereits in dieser kurzen Zeit eingeschlafen war. Ihr Atem ging sanft, sie schien sich wohl tatsächlich bei mir wohlzufühlen. Eigentlich müsste ich jetzt langsam mal zu May und Theo gehen, jedoch fühlte ich mich schlecht dabei, das junge Mädchen Nachts alleine zuhause zu lassen. Also legte ich sie erstmal vorsichtig auf dem schmalen Bett, welches für mich eigentlich viel zu klein war ab und quetschte mich trotzdem noch neben sie. Fast fiel ich hinunter, konnte aber noch rechtzeitig mein Gleichgewicht halten.
Fieberhaft überlegte ich meine nächsten Schritte, während ich das Mädchen leise in meinem Arm schnarchen hörte. Ich entschloss mich nach einiger Bedenkzeit doch dazu, bevor die Sonne aufgehen würde, wieder zu verschwinden.

Als ich von Vogelgezwitscher geweckt wurde, gähnte ich herzhaft, blinzelte gegen die strahlende Sonne und war mit einem Mal hellwach. »Scheisse, scheisse, scheisse!« Ich wollte schon längst bei May und Theo sein. Dann hörte ich noch ein leises Gähnen, als sich Loreen neben mir räckelte und sich den Schlaf aus den Augen rieb. »Rachel...?«, fragte sie verwirrt und musste prompt ein weiteres Mal gähnen. »Was ist los?« »Tut mir leid, Loreen. Ich muss jetzt aber echt gehen.« Sofort sah ich so etwas wie Enttäuschung in ihre Augen schleichen. Sie tat mir zwar leid, jedoch konnte ich darauf nun wirklich keine Rücksicht nehmen. Ich sprang auf, und war froh, dass ich mich, da ich in meiner Straßenkleidung geschlafen hatte, nicht mehr umziehen musste. »Bekommst du dein Frühstück selbst hin?« fragte ich hektisch. Loreen nickte lediglich halbherzig. »Und kommst du alleine in die Schule?« Sie kicherte, perplex starrte ich sie an. Was war an der Frage komisch? »Ich habe doch gerade Ferien.« Schockiert sah ich sie an, in meinem Kopf ratterte es. Ich hatte garnicht mehr aufs Datum geschaut, bzw. gestern garnicht in mich aufgenommen, obwohl ich letztens an meinem PC nach Loreen gesucht hatte. Ein kurzer Blick auf die digitale Uhr in Loreens Zimmer, welche im Kontrast zu dem Retro-Stil des Hauses irgendwie fehl am Platz wirkte, verriet mir, dass wir kurz vor Weihnachten hatten. Es war nun der 20. Dezember. Wow, ich erinnerte mich daran, dass als ich entführt wurde, es gerade erst anfing kühl zu werden. Das war Anfang Herbst. Es kam mir vor, als wären in dieser Zeit zwei Jahre vergangen, soviel wie passiert war. Ich rechnete reflexartig vier Tage zurück, zu dem Tag, an dem ich vor Derek geflohen war. Also war das der 16. Dezember gewesen.

Ich schüttelte mich augenblicklich, als wieder Erinnerungen in Fetzen aufkamen. Ich wollte einfach nur vergessen. Und wie ich so in die sanften, grünen Augen von Loreen schaute, wusste ich, dass diese grünen Augen mich niemals vergessen lassen könnten. Und irgendwie schmerzte es mich. Sie konnte nichts dafür. Ich sollte sie nicht verurteilen. Aber jedes Mal, wenn ich sie ansah, kam es mir so vor, als würde ich Sandor ansehen. Und wieder einmal verblüffte es mich, dass ich seiner Bitte, mich um seine Tochter zu kümmern, ohne weiteres nachkam. Ich verlangte viel von mir ab. Er war mir etwas schuldig. Oder war ich ihm etwas schuldig? Er hatte mich zweimal vor dem Tod gerettet. Ich schüttelte irritiert den Kopf, um mich davon abzuhalten, weiter darüber nachzudenken. Immerhin musste ich nun wirklich gehen.

Ich hatte immernoch kein neues Handy, May und Theo mussten krank vor Sorge sein, da sie mich logischerweise die ganze Zeit nicht erreichen konnten. Also fragte ich nocheinmal schnell nach, ob Loreen wirklich alleine zurecht kam. Abermals nickte sie und da ich sie als bereits sehr selbstständiges Mädchen für ihr Alter wahrnahm, machte ich mir dabei auch keine Sorgen.

»Denk bitte nur daran, keine Fremden ins Haus zu lassen, schließ am Besten einfach ab.«
»Ja, ich lasse nur dich und Papi rein.«

This Person Does Not ExistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt