6.Kapitel

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In den nächsten Tagen fühlte ich mich zudem immer häufiger beobachtet. Zuhause, im Bett, beim Duschen, beim Einkaufen, beim Spazieren gehen. Meine Sorge war nicht unbegründet.

Ich war mir ziemlich sicher, dass ich letzte Nacht, als ich die Vorhänge der Fenster, welche zu meinem kleinen Garten zeigten zuzog, einen Schatten gesehen zu haben.
Naja, zumindest war ich mir so lange sicher, bis ich versuchte, mir das Gesehene selbst auszureden.

Sätze wie: „Du bildest dir das alles nur ein" und „Du bist zu paranoid", wiederholten sich in meinem Kopf, wie in einer Dauerschleife.
Man sagt zwar immer, man sollte seine Probleme nicht ignorieren, aber es war der einzige Weg, wie ich es schaffte, noch ruhig zu bleiben.
Sonst würde ich mir wahrscheinlich aus Verzweiflung und Todesangst die Seele aus dem Leib schreien. Mal abgesehen davon könnte es natürlich echt sein, dass ich mir das nur einbildete. Schlafmangel, Angst und Paranoia ergaben das perfekte Rezept für Wahnvorstellungen.

Meinen Computer hatte ich seitdem ich auf darkposts.onion war, aus Angst nicht mehr angefasst, fast so, als wäre er radioaktiv.
May war zudem fast jeden Tag bei mir, damit ich nicht alleine sein musste, wofür ich ihr ziemlich dankbar war.
Wie auch schon die letzten Tage, saßen wir gemütlich auf dem Sofa und tranken einen Kaffee. »Apropos Kaffee«, fing May gerade an, kurz bevor sie ihre nun leere Tasse auf den Couchtisch vor uns abstellte, »Soll ich dich dann gleich wieder zu Mrs. Hills Café hinfahren?«
»Dafür wäre ich dir super dankbar, May.«
Sie lächelte kurz, ehe ihr Blick gedankenverloren an die Decke schweifte.
»Wieso muss die Uni so anstrengend sein?«, seufzte sie plötzlich. Verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel, wandte ich ihr meinen Blick direkt zu. »Und wieso hast anscheinend nur du so heiße Professoren?!«

Mein Mund formte sich urplötzlich zu einem Grinsen. Ich hatte ihr von meinem nun Lieblingsprofessor - welchen ich übrigens in letzter Zeit häufiger sah - erzählt und diese Erzählungen so anschaulich gestaltet, dass ihr fast der Speichel aus dem Mund gelaufen wäre.
Ich kicherte, »Das hast du davon, dich nicht für meine Uni entschieden zu haben«.
Als Antwort rümpfte sie nur empört die Nase, stieß ein leises, »Tssss...« aus, und stand mit einem prüfenden Blick auf ihr Handy auf.
»Wie dem auch sei, wir müssen dann jetzt wirklich los«.

Ein schneller Blick auf meine Armbanduhr am linken Handgelenk, reichte mir, um zu sehen, dass sie recht hatte, »Also bitte, du hast uns ja wohl hier aufgehalten«, schmunzelte ich.
May verdrehte lediglich die Augen.

Keine zwei Minuten später saßen wir schon wieder in Mays rotem Renault. Während der Autofahrt redeten wir nicht viel. In meinem bisherigen Leben lernte ich jedoch zwei Arten von Stille kennen. Die angenehme und die unangenehme. Mit meiner besten Freundin war mir keine Stille unangenehm. Normalerweise zumindest nicht. Ich musste gerade aber einfach irgendetwas reden.
»Wie geht's Theo? Habe ihn schon lange nicht mehr gesehen?«

May sah mich nur kurz aus den Augenwinkeln an, um nicht den Fokus von der Straße zu verlieren. »Er hat sich auch letztens nach dir erkundigt, vermisst dich anscheinend auch«. Ich lächelte. Ich lächelte, weil Theo und ich solche Sachen ohne irgendwelche Hintergedanken sagen konnten. Wir waren nie in einander verliebt gewesen und werden es nie sein. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und waren auch seither unzertrennlich.
Wir hatten ein wahres Geschwisterband. May sah dies jedoch immer anders. Sie versuchte früher sogar immer ihren Bruder und mich zu verkuppeln. "Dann würden wir wirklich alle zu einer Familie gehören, wäre das nicht toll?", hatte sie öfter grinsend gesagt.

Bei dem Gedanken an diese unbeschwerte Zeit musste ich sogar noch etwas breiter lächeln. »Richte ihm Schöne Grüße von mir aus, ich werde so schnell wie es geht mal wieder bei euch vorbeikommen«, verkündete ich schließlich. Nun lächelte auch May.

This Person Does Not ExistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt