22.Kapitel

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Mein Mund wurde trocken. In diesem Moment fühlte ich garnichts mehr. Weder Angst, Wut noch Trauer. Ich fühlte mich taub, nahm alles weitere nur noch wie durch Watte wahr. »Bevor ihr umgezogen seid, bevor ich ins Gefängnis kam, wollte ich euch nochmal eine Lektion erteilen.«, fing er an, »Oder viel eher; dir.« »Du bist so krank«, hauchte ich, »Du brauchst Hilfe.«

»Alles was ich brauche bist du Rachel, wenn du das auch so sehen würdest, wäre das alles gar nicht erst passiert. Es ist deine Schuld, dass wir jetzt hier stehen. Eigentlich hast du Glück, dass du überhaupt noch hier stehst. Ich hätte fast nicht nur deinen Vater, sondern auch dich umgebracht. Da war so viel Blut, ich dachte du wärst Tod.«, er machte kurz eine dramatische Pause, in der er seinen Griff in meinen Haaren nochmal etwas verstärkte. Mit der anderen Hand deutete er hinter sich, ehe er weiter sprach, »Du kannst dich bei Sandor bedanken. Wegen ihm hast du überlebt.« Mein Blick glitt an Derek vorbei, an die Stelle wo Sandor noch vor kurzem saß. Richtig, vor kurzem - er war nämlich nicht mehr da. Anmerken ließ ich mir jedoch nichts.

Vor meinem inneren Auge erschien das sanfte, lächelnde Gesicht meines Vaters. Ich wollte weinen, schreien. Derek hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte mein Leben zu einer einzigen Hölle gemacht. Er hat nicht nur Theo verletzt, er hat ebenfalls meinen Vater umgebracht. Vielleicht war Theo auch gar nicht mehr am Leben, vielleicht haben die Ärzte die Maschinen ausgestellt, weil sie erkannt haben, dass es ihm nie wieder besser gehen würde. Dieser Gedanke machte mir Angst.

Und ich dachte immer ich hätte einen Schutzengel gehabt. Derek will mir jetzt erzählen, dass der Name dieses Schutzengels Sandor war? Das war so absurd. Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, sprach Derek schon weiter, als hätte er mal wieder meine Gedanken gelesen, »Ich habe mich daraufhin gefragt, wie witzig es denn eigentlich wäre, wenn sich der eigene Schutzengel zum Teufel verwandeln würde?«

Plötzlich kam doch wieder Bewegung in mich; eine heiße Welle Adrenalin wog erneut durch meinen gesamten Körper. »Ja, wahnsinnig witzig, du Arschloch. Ich wünschte ich hätte dir früher niemals geholfen, mich nie auf dich eingelassen. Ich hoffe du bekommst alles schlechte, was du mir und meinen Mitmenschen angetan hast doppelt zurück.«, jeden einzelnen Satz spuckte ich ihm entgegen, während sich sein Gesicht mit jedem gesprochenen Wort immer mehr verzog. Als ich fortfahren wollte, sah ich auf einmal etwas in seiner freien Hand aufblitzen. Ich stockte nur kurz, ehe ich unbeirrt fortfuhr, »Weißt du was? Mich würde es nicht mal mehr interessieren, wenn du mich einfach umbringen würdest. Dann wäre ich dich endlich ein für alle mal los. Ich hasse dich. Ich hasse dich so sehr wie ich noch nie jemanden gehasst habe. Mit jeder Faser meines Körpers. Mit jedem Herzschlag. Ich hasse dich.« Sein Gesicht war nun so wutverzerrt, dass ich eigentlich in mich zusammensacken- und winselnd die Hände über meinem Kopf legen wollte. Doch ich hielt seinem Blick stand. »Ich oder keiner.«, fauchte er, ehe er das Messer in der freien Hand hoch hob und ich es auf mich hinunter sausen sah. Nun zuckte ich doch zusammen, und schloss meine Augen, hoffte, dass es schnell vorbei sein würde.

Wo auch immer Sandor plötzlich hin war - ich hoffte, dass er sich in Sicherheit gebracht hatte.

Genau als ich das dachte, hörte ich auf einmal einen dumpfen Aufprall, dann ein Stöhnen. Ich blinzelte und blickte zögerlich auf. Vor mir sah ich Derek der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf hielt. Er war in sich zusammengesackt, sodass er nun selbst sitzend an der Wand lehnte. Direkt hinter ihm kniete Sandor. Seine Hand war rot und blutig. Ich nahm an, dass er Derek eins von hinten übergezogen haben musste. Sandors Blick traf meinen. Das waldgrün entspannte mich augenblicklich. Nun wusste ich endlich, wieso sie so einen Effekt auf mich hatten. Es waren die Augen meines Retters. Er rette mich nun schon das zweite Mal vor dem Tod.

Empfand ich Dankbarkeit? Nein, denn er hatte mich erst in diese Situation hier gebracht. Man könnte das aufkommende Gefühl eher... Vertrautheit nennen. Im selben Moment wurde mir klar, dass ich dieses grün unterbewusst wieder gesucht hatte. In den Augen meines Professors zum Beispiel. Diese waren jedoch nur halb so schön wie Sandors.

Ich spürte, wie etwas nach meinem Arm griff. Sandors Gesicht erschien direkt vor meinem. »Wir müssen jetzt hier weg Rachel.« Er schob sich schnell an mir vorbei, hob seine sowieso schon blutige Hand und schlug mit dieser, ohne mit der Wimper zu zucken die Glastür durch. Scherben flogen in alle Richtungen. Einige schnitten sich in mein Fleisch. »Geh vor.«, deutete Sandor. Ich nickte nur und warf noch einen schnellen Blick auf Derek, welcher sich circa zwei Meter hinter mir räkelte. »Was ist mit ihm?«, fragte ich jedoch noch, bevor ich versuchte, mich durch den entstandenen Durchgang zu drücken und mich dabei nicht zu schneiden. »Wir rufen die Polizei bei der nächsten Telefonzelle. Oder klopfen bei jemandem. Er hat mir mein Handy abgenommen... und deins musste ich zerstören, damit es niemand orten kann«, erklärte er zerknirscht. Ich hielt mich zurück nicht schonwieder einen Streit anzufangen. Im Moment war mir das Entkommen tatsächlich wichtiger. Also quetschte ich mich durch die Öffnung. Kühle Nachtluft schlug mir entgegen. Noch nie hatte ich diese so genossen. Ich riss mich zusammen nicht einfach stehen zu bleiben und die Augen zu schließen. Stattdessen versuchte ich, die Gegend zu analysieren.

Ich stand auf einer kleinen Erhöhung, am Fuße konnte ich ein Dorf ausmachen. Welches mir mehr als bekannt vorkam. Hier war ich öfter vorbeigekommen, wenn ich meine Mutter mit dem Bus besuchen gegangen bin. Ich war lediglich ein Ort von meinem Zuhause entfernt. Als ich mich langsam umdrehte, begutachtete ich das Haus, in welchem Ich die letzten Monate gefangen war. Es war kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte. Umrahmt von einigen Laubbäumen, dessen Blätter sich nun sacht im Wind wogen. Mein Blick fiel wieder auf die Tür, aus welcher sich Sandor gerade rauszukämpfen versuchte. Die Öffnung war etwas zu klein für ihn.

Gerade als es so aussah, als ob er seinen Oberkörper endlich hindurchgedrückt hatte, zog er sich wieder zurück. Verwundert ging ich wieder ein paar Schritte auf die nun kaputte Glastür zu. »Sandor?« »RENN RACHEL; RENN! RUF DIE POLIZEI!« Panik überkam mich, als er mir die Worte entgegenschmiss, während ich Derek wieder auf ihn einschlagen sah.

Und ich rannte, so schnell, wie ich noch nie gerannt war. Es fühlte sich fast an, als ob ich fliegen würde. Ich hatte jedoch die Schwäche meines Körpers unterschätzt, weshalb ich mich wenig später hinlegte und den Rest des Hügels herunter rollte. »Fuck!«, der Aufprall auf Asphalt traf mich hart. Ich prallte so stark auf dem Rücken auf, dass es mir für einen Moment den Atem nahm. Dann schlug ich ebenfalls mit dem Hinterkopf auf. Ich wollte wieder aufstehen, weiter laufen, jedoch machten meine Beine nicht mehr, was ich ihnen befohl. Ich blieb besiegt auf dem Bürgersteig liegen und spürte, wie ich nach und nach das Bewusstsein verlor.

This Person Does Not ExistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt