5.Kapitel

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Als ich am nächsten Morgen von dem schrillen Schrei meines Weckers geweckt wurde, genoss ich den kurzen Moment des Nichtwissens.
Bis schließlich alles passierte wieder schlagartig auf mich einprasselte und mir das Gefühl gab, lieber im Bett bleiben zu wollen.
Langsam drehte ich mich um, sah May aber nicht mehr neben mir liegen. Wir hatten fast die ganze Nacht über Romanzen geschaut, als ob sie dann jetzt schon wach wäre.
Wo war sie?
Schon wieder beschlich mich Angst.
»Maaaaay?«, rief ich fragend die Treppe herunter ins Wohnzimmer, bekam jedoch keine Antwort.
Es war mucksmäuschenstill.

Plötzlich hörte ich ein Auto vor meinem Fenster lautstark hupen.
Was war da draußen los? Und wo verdammt war May? War ihr etwas passiert?
Schonwieder lief mir Angstschweiß aus allen Poren, als ich mich in Richtung Fenster bewegte. Vor meiner Haustür stand der rote Renault von May. Erleichtert atmete ich aus. Anscheinend war sie schon früher losgegangen, um das Auto zu holen. Als sie grinsend »KOMMST DU?« zu mir hochschrie, waren schließlich all meine Zweifel wie weggeblasen.

Fünf Minuten später saß ich auch schon mit ihr im Auto. Die fünfzehn-Minütige Reise zu meiner wunderbaren Fachhochschule für Grafikdesign konnte nun losgehen.

In der Schule, welche ledeglich ein hässlicher grauer Klotz war, war alles wie immer.
Einige meiner Schulfreunde und Lehrer erkundigten sich nach meiner Gesundheit. Lächelnd gab ich ihnen die Auskunft, dass es mir gut gehen würde.
Immerhin glaubten sie es mir.
Ich glaubte mir nämlich selbst nicht.

Als ich jedoch in meinen Kurs saß und dem heißen Professor beim Reden zuhörte, könnt ihr mir glauben, dass es mir auf einmal wahnsinnig gut ging.

Falls ihr euch übrigens fragen solltet, ob May auf die selbe Schule wie ich geht, muss ich euch leider enttäuschen. Sie nahm mich aber morgens öfter mit dem Auto mit, da ich
erstens immernoch nicht den Führerschein hatte, weil ich seit dem Autounfall, bei dem mein Vater ums Leben gekommen war, panische Angst davor hatte, selbst ein Auto zu fahren und zweitens weil ihre Universität direkt neben meiner Fachhochschule lag. Sie studierte Medizin.

Schade, dass sie diesen Anblick von Mann verpassen musste. Wie gerne würde ich zusammen mit ihr über ihn schwärmen.
Über die deutlichen Wangenknochen.
Die grünen Augen. Und dieses heiße Lächeln.
Durch ihn konnte ich mich kaum auf den Unterricht konzentrieren und zwar so wenig, dass ich gar nicht mitbekam, was überhaupt Thema der Stunde war. Mein Blick schweifte abwechselnd verträumt zu dem Lehrer und über die Schüler meines Kurses. Erst da fiel mir ein augenscheinlich neuer Schüler auf.
Ich konnte nur einen kleinen Teil seines Gesichts erkennen, da er einige Reihen schräg vor mir saß. Braune Haare fielen ihm ins Gesicht. Er kam mir bekannt vor.

Jedoch holte mich die Schulklingel wieder in die Realität zurück, ehe ich näher darüber nachdenken konnte. Ich stand wie im Zeitlupe von meinem Platz auf, um nochmal einen kurzen Blick auf den Professor zu erhaschen und setzte mich langsam in Bewegung, während die anderen Schüler nur so an mir vorbeiströmten und mich dabei fast umrannten.
Wow, wie ich Menschenmengen hasste.

Vor der Schule wartete schon May auf mich, um mich bei meinem Arbeitsplatz, einem kleinen Café Namens »el Café« abzusetzen.
Meine Chefin war wirklich eine liebe, alte, spanische Frau, jedoch konnte ich mich nicht ganz mit der unkreativen Namenswahl anfreunden. Aber ich war ihr dankbar, dass sie sich entschied das Café nur zehn Minuten von meinem Haus entfernt zu errichten. Somit lag auch mein Arbeitsplatz auf Mays Weg, wodurch es kein Problem für sie war, mich dort abzusetzen.

Dies tat sie schließlich auch, aber nicht ehe sie sich mit einem, »Viel Spaß und mach dir nicht so viele Sorgen«, von mir verabschiedete.
Ich winkte ihr inklusive einem, »Ich versuchs«, noch einmal lächelnd zu und schon stand ich in dem kleinen Laden und schälte mich in meine Arbeitskleidung. Ein kurzes weiß-schwarzes Kleidchen für die Frauen, ein weiß-schwarzer Anzug für die Männer. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich darin nicht zum anbeißen aussah. Schnell band ich mir noch einen Zopf und trat aus dem Zimmer, welches nur für uns Mitarbeiter bestimmt war, heraus. Meine Kollegen waren noch nicht anwesend.

Aber meine Chefin erblickte mich und kam mit zittrigen Schritten auf mich zu. Wie gesagt, sie war eben schon eine alte Frau. »Hola Rachel, mi hermosa! Freut mich, dass du wieder da bist. Geht's dir wieder besser?« Ich nickte. Sie war echt süß. »Ja danke Mrs. Hill, schon viel besser«. Wer sich wunderte, wieso sie als spanische Frau so einen amerikanischen Nachnamen hatte; ihr Mann war tatsächlich ein Amerikaner - sie hatte seinen Namen angenommen. Soweit ich weiß, war ihr Mädchenname ursprünglich „Fernandez".
Mrs. Hill war eine sehr intelligente, schlaue Frau und sagte noch, als wüsste sie, dass es mir ganz und garnicht besser ging: »Wenn irgendwas ist, kannst du auch mit mir darüber reden«, ehe sie sich langsam wieder Richtung Tresen bewegte. Ihr entging nichts. Ich schaute ihr einen Moment hinterher und war auf einmal fest davon überzeugt, dass meine Story ihr Herz nicht mitmachen würde, so sehr, wie sie sich immer um mich sorgte.
Also entschied ich mich, ihr nichts zu erzählen.

Rückblickend hätte das wahrscheinlich einiges verhindern können.

Pfeifend machte ich mich auf den Weg zum ersten Kunden hin, welcher tatsächlich nur einen Café bestellte. Die Stunden vergingen wie im Flug. Gegen Ende hin saß schließlich nur noch ein Mann in dem Café. Und mein Gott, sah der gut aus. Wie lange saß er schon da? Es konnte nicht sein, dass er mir die ganze Zeit nicht aufgefallen war. Im ersten Moment dachte ich es wäre mein heutiger Professor gewesen, da er genau die selben auffälligen Wangenknochen besaß. Seine Augen waren ebenfalls grün, nur etwas stechender.
Seine Haare hatten jedoch die Farbe eines tiefen schwarzes und als ich mich ihm näherte, erkannte ich einen Dreitagebart.
Ich schätzte ihn auf Mitte oder Ende zwanzig. Nachdem ich ihn für einige Sekunden observiert hatte, war ich fest davon überzeugt, dass dies vor mir wohl Gott in Menschengestalt sein musste. Und das, obwohl ich nicht gläubig war. Als ich direkt vor ihm stand, hob sich schließlich auch sein Blick und traf auf meinen.
Aber nicht lange, da seine Augen sogleich anfingen, an mir hinauf und runter zu wandern. Sein Blick war so intensiv. Auf der einen Seite schüchterte er mich total ein, auf der anderen machte es mich irgendwie... an? Ich spürte wie ich rot wurde, ehe ich ihn schüchtern fragte, »D-Darfs noch etwas für Sie sein?« Nun ruhte sein Blick wieder auf meinem Gesicht. Mein Körper bebte, als seine tiefe Stimme ertönte,
»Nein danke, aber ich würde gerne bezahlen.«
Sein Ton strahlte eine unglaubliche Dominanz aus.

Ich kassierte ihn ab und sah ihm hinterher als er aus der Tür hinausging. So lange, bis er schließlich mit der Dunkelheit eins wurde.
Nie zuvor hatte ich einen so schönen Menschen gesehen.

Nachdem ich den Laden abgeschlossen und mich wieder umgezogen hatte, rief ich meiner Chefin ein schnelles, »Tschüss, Mrs. Hill, ich werde jetzt nach Hause gehen«, zu. Schließlich war es nun schon nach zehn Uhr und ich hatte somit Schichtende. »Schaffst du das alleine?«, ertönte es sogleich von ihr. »Ja alles gut, sind ja nur zehn Minuten Fußweg«.
»Okay, dann machs gut! Bis morgen«
»Bis morgen!«

Dieser Fremde hatte mich all meine Ängste vergessen lassen. Sonst hätte ich glaube ich May angerufen und sie gefragt, ob sie mich abholen könnte. Wie beschwingt verließ ich das Café. Dass es eine eher weniger gute Idee war alleine loszulaufen, bemerkte ich erst dann, als ich mich auf einmal wieder beobachtet fühlte.
Ich blieb stehen und wendete meinen Kopf nach links und rechts, sah jedoch niemanden.
Da es aber nur noch zehn Meter zu meinem Haus waren, fing ich an zu rennen.
Ich war heilfroh, als ich die Tür zuschlagen und abschließen konnte.

Ich wusste noch wie ich dachte: Oh man, wie unnötig paranoid ich bin, als ich mich erschöpft ins Bett fallen ließ.
Bevor meine Augen zufielen, musste ich noch ein letztes Mal an den schwarzhaarigen Mann denken.

In den nächsten Tagen fiel mir dieser mysteriöse Fremde immer häufiger in Mrs. Hills Café auf.

This Person Does Not ExistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt