Ich habe das Stockholmsyndrom. Darüber war ich mir nach dieser Nacht sicher. Ich hoffte es fast sogar, denn wenn das nicht der Fall wäre, würde ich ernsthaft freiwillig auf einen Typen stehen, welcher mich in der Vergangenheit misshandelt hatte. Was würde das über mich aussagen? Plötzlich konnte ich meinen ersten Therapietermin kaum erwarten. Jedoch hatte ich heute ersteinmal einen anderen Termin. Den Gerichtstermin. Auf diesen Tag hatte ich mich weniger als garnicht gefreut. Ich würde Derek wiedersehen. Immerhin würde dieser verurteilt werden.
Keine Stunde später holte mich meine Mom von den Geschwistern ab. May und Theo würden nicht mitkommen. Beide waren anderwertig mit den Vorbereitungen unseres kleinen Familienfestes beschäftigt und Theo hatte schließlich schon ausgesagt. Ich nahm ihnen das keinesfalls übel. Ich wollte garnicht, dass die zwei dabei sind, sie würden sich entweder zu sehr aufregen, oder sich zu sehr um meinen Zustand sorgen. Darauf konnte ich verzichten und mir reichte in dem Bezug schon meine Mom aus.
Die ganze ein-stündige Autofahrt redete sie kein Wort mit mir. Hin und wieder stieß sie einen leidenden Seufzer aus. Auch ich sagte nichts. Ich hatte keine Lust zu reden und meine Gedanken kreisten die ganze Zeit darum, wie der Gerichtstermin wohl verlaufen würde. Meine einzige Motivation diesen zu überstehen war, dass wenn wir zurückkommen würden, wir endlich mal wieder etwas zu feiern hatten.Es war tatsächlich genauso klischeehaft wie ich mir das vorgestellt hatte. Vorne, hinter einem Podest saß der Richter mit seinem Hammer, neben ihm die Geschworenen. Ich wurde von einem Polizisten zur Zeugenbank geführt und als ich mich- und meine Mom sich neben mir niederließ, fühlte ich mich schlagartig beobachtet. Wie auf dem Präsentierteller. Das rührte wahrscheinlich daher, dass auch ein Publikum von Schaulustigen anwesend war. Irgendwie bekam ich einen Kotzreiz, als ich sie da so alle beisammen sitzen sah. Als würden sie sich gleich einen spannenden Kinofilm ansehen. Fehlte nurnoch das Popcorn. Mir fiel auf, dass es überwiegend ältere Leute waren. Stimmt, die haben wahrscheinlich auch nichts mehr besseres beziehungsweise spannenderes in ihrem Leben zu tun. Wut kochte in mir auf und um mich wieder zu beruhigen, wandte ich den Blick ab. Rechts von mir war das Publikum. Aber an die Alten Säcke würde ich keinen Blick mehr verschwenden. Links von mir saß der Richter, welcher mindestens genauso grimmig dreinschaute wie ich und geradeaus-... mein Herz setzte einen Schlag aus, ehe es noch heftiger anfing zu pochen, saß Sandor. Seine grünen Augen funkelten mich an wie Edelsteine, seine Mimik war jedoch versteinert. Irgendwie... leer. Als wolle er mir mit seinem Blick sagen: »Heute ist der letzte Tag an dem wir uns sehen werden.« Und damit hatte er wahrscheinlich garnicht mal so Unrecht.
Mein Blick wurde von etwas glänzendem an seinen Handgelenken angezogen. Er trug Handschellen, stellte ich nüchtern fest. Direkt neben ihm saß ein Polizeibeamter, welcher noch grimmiger als der Richter und ich zusammen dreinschaute. Dass das überhaupt möglich war, wunderte mich.Ich machte ein unauffälliges Handzeichen in Sandors Richtung, was so etwas wie ein »Hallo« symbolisieren sollte. In seinem Gesicht zeichnete sich jedoch kein Zeichen von Erkennung ab. Also ließ ich meine Hand wieder sinken. Kurz kamen Bilder in meinem Kopf von der letzten Nacht mit Sandor auf, ich verwarf sie jedoch direkt wieder. Ich musste mich jetzt voll auf diesen Termin konzentrieren. Im Augenwinkel sah ich meine Mutter Sandor mir gegenüber argwöhnisch mustern. Es sah fast so aus, als glaubte sie mittlerweile selbst nicht mehr an seine Unschuld, wie sie ihn so mit Handschellen dasitzen sah. Ich schluckte hart. Dann fiel mein Blick auf die leere Bank in der Mitte des Saals. Derek war noch nicht da.
Gerade als ich das dachte, wurde die Tür des großen Saals mit so einer Wucht augeschmissen, dass ich kurz zusammenzuckte. Dann begann mein Herschlag sich um das dreifache zu beschleunigen. Derek trat im Schlepptau mit vier Beamten in den Saal. Er trug ebenfalls Handschellen und wurde von zwei der Polizisten zu der leeren Bank gezogen. Diese schubsten ihn schließlich regelrecht auf den Platz, ehe sie rechts und links neben ihm Platz nahmen. Wow, sie mussten ihn wirklich für unberechenbar eingestuft haben.
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This Person Does Not Exist
Mystery / ThrillerMeine Mom bläute mir früher immer ein, wie wichtig es wäre, zwar auch mal Fehler zu machen, da man durch diese am meisten lernen würde... ... Man in manchen Situationen aber einfach keine Fehler machen sollte. Sie werden dich sonst für den Rest dein...