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Ich weiß nicht, wie lange es noch dauert, bis Opa zurückkommt. Jaemin und ich verbringen die Zeit auf dem Sofa, hauptsächlich schweigend. Er ist erschöpft, ich nicht richtig ausgeschlafen, also sitzen wir einfach nur da, sein Kopf auf meiner Schulter, mein Arm um ihn gelegt. Er hält meine rechte Hand fest, streicht manchmal gedankenverloren über sie.

Ich höre das Klappern des Briefkastens, weshalb ich meinen Kopf zur Tür wende, und Opa kommt mit zwei Einkaufstaschen, beide mit Blauwalmotiv, und einer Zeitschrift hinein, lässt es alles ziemlich laut auf den Esstisch fallen – und als Jaemin nicht reagiert, bemerke ich erst, dass er eingeschlafen ist. Sein Kopf rutscht tiefer, und ich schiebe ihn vorsichtig zurück auf seine ursprüngliche Position.

"Schläft er?", fragt Opa hinter mir, und ich nicke. "Das ist gut."

Ich höre zu, wie er versucht leise seine Einkäufe wegräumt, und streiche dabei durch Jaemins Haare, der mit einem leisen Seufzen sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergräbt. Und da er sich damit zu mir dreht, sitzt er daraufhin halb auf meinem Schoß.

"Hast du mich am Montag angelogen, Wasserjunge?" Opa fragt es mit einer liebevollen Ernsthaftigkeit.

Ich schüttle den Kopf. "Wir sind erst seit vorgestern zusammen."

"Sag bloß." Ich kann mir vorstellen, wie er Jaemin mustert. "Ihr ergänzt euch."

"Hm." Ich spiele mit einer von Jaemins schwarzen Strähnen. Mir brennt eine Frage auf der Zunge, aber ich stelle sie nicht. Opa nimmt das Buch, das auf dem Tisch vor dem Sofa liegt, und stellt es in sein Regal. Mit einem Aufseufzen lässt er sich in seinen Sessel fallen, greift nach seiner Lesebrille, aber setzt sie nicht auf.

"Gestern", beginnt er leise, "war er heiser, als ich ihn am Strand gefunden habe. Er hat im Sand gesessen und sich wie wild dagegen gewehrt, als ich ihn mitnehmen wollte. Im strömenden Regen und Gewitter, komplett durchgefroren, und wollte trotzdem nicht gehen. Ich wollte ihn eigentlich erst nur zu den Lius bringen, aber..."

Ich schlucke. "Hast du ihm gesagt, dass ich zurückkomme?"

"Habe ich. Ich weiß nicht, ob er es mir geglaubt hat. Aber er hat drum gefleht. Gebetet, dass es passiert. Fünf Minuten, hm. Fünf Minuten hat er da gesessen, regungslos, und die Augen geschlossen gehabt. Ich konnte ihn nicht zum Essen kriegen, schlafen konnte er auch nicht. Zwei Mal hat er wieder nach draußen gewollt. Falls du da bist, falls du zurückkommst. Ich glaube nicht, dass er wirklich daran geglaubt hat, auch wenn ich's ihm gesagt habe." Er streckt seine Beine aus. "Heute Morgen dann war er wach, als ich aufgestanden bin, und bis ich das Essen fertig hatte, hat er dich festgehalten. Ich hab ihm noch ein Buch gegeben, hm. Und er hat trotzdem noch die ganze Zeit zu dir gesehen. Als könntest du verschwinden, sobald er wegsieht."

Während ich darüber nachdenke, was ich sagen soll, krallt Jaemins Hand sich in meinen Pulli. Ich löse seinen Griff vorsichtig und halte sie fest, sodass er sich stattdessen an meine Hand klammert.

"Ich habe mich wiedergesehen, weißt du." Opas Sessel knarzt. "Nachdem eure Oma gestorben ist. Diese Hilflosigkeit, Verzweiflung, alles ist aussichtslos und jede Sekunde endlos. Er hat's nicht gesagt, aber du konntest es ihm ansehen. Ständig hat er auf die Uhr geschaut. Konnte sich auf nichts konzentrieren. Nicht essen, nicht schlafen. Nur an die Decke starren und hoffen, dass es vorbeigeht."

"Noonie hat erzählt, dass es schonmal passiert ist. Zwei Mal. Und dass du... gewusst hast, dass ich zurückkomme."

"Manchmal", er setzt sich seine Brille auf und greift nach seinem Buch auf dem Beistelltisch, "redet sie auch mit mir."

Ich sehe ihn verblüfft an, aber er schlägt zielstrebig eine Seite auf und erklärt das Gespräch damit für beendet.

In der Zwischenzeit ist Jaemin unruhiger geworden, sein Atem erscheint mir schneller, sein Griff ist fester. Ich achte auf jede kleine Veränderung, frage mich, ob er einen Albtraum hat und ob ich ihn aufwecken sollte. Bevor ich zu einem Entschluss kommen kann, zuckt er zusammen, es müssen seine Wimpern sein, die an meinem Hals entlangstreifen.

"Jeno", bricht es aus ihm hervor, noch gefangen in seinem Traum, aber hellwach.

"Ich bin hier", sage ich leise in seine weichen Haare, "alles ist gut."

Er schlingt seine Arme um meine Schultern, fest, und ich ziehe ihn ein wenig dichter an mich, streiche mit meinem Daumen leicht über seinen Rücken.

"Hast du schlecht geträumt?" Jaemin nickt schwach. "Von mir?" Wieder nur ein Nicken. Ich warte, bis er sich beruhigt hat, nicht mehr seinen ganzen Körper anspannt.

"Möchtest du darüber reden?", frage ich dann. Eine Weile kommt keine Reaktion.

"Du bist ertrunken", wispert er lediglich, klingt den Tränen nahe.

"Ich bin hier. Und ich bleibe."

Er nickt und schluchzt doch in meine Schulter. Opa steht auf und macht den Geräuschen nach zu urteilen Essen – und Tee. Ich bewege meine Hand über Jaemins Rücken, und letztendlich hebe ich ihn auch auf meinen Schoß. Er hat etwas Verletzliches, Empfindliches, und es erinnert mich an die Bruchteile nach seinem Tanzen, die wenigen Momente der totalen Stille zwischen dem Ende des Stücks und der Reaktion des Publikums, in denen er bei der kleinsten Verunsicherung brechen könnte. Seine Schultern beben, leicht und doch so deutlich, und er klammert sich so fest an mich wie gestern.

"Hey, kleiner Tänzer", wispere ich, "alles gut. Okay? Ich bin nicht ertrunken und werde es auch nicht."

Er schluchzt nur, und ich erzähle ihm etwas über Papageientaucher, da das das einzige Nicht-Meerestier ist, zu dem mir mehrere Sachen einfallen. Danach schweige ich, bis Jaemin sich aufrichtet und sich über die Wangen wischt. Ich lege meine rechte Hand an seine Wange, achte eine Weile auf seinen unregelmäßigen Atem, sein Zittern, wenn er einatmet, ehe ich über seine Haut streiche und ihn küsse.

"Alles gut", flüstere ich, "okay?" Ich erhalte ein Nicken. Er wischt sich etwas aus dem Augenwinkel, bevor er wieder seine Arme um meine Schultern schlingt. Sein Zittern ist subtil und doch so deutlich. Ich drücke ihn fest an mich und spüre, wie er sein Gesicht in meiner Halsbeuge vergräbt.

"Mir wird nichts passieren. Das lässt sie nicht zu."

Seine Fingernägel bohren sich in meine Schultern, und ich warte darauf, dass er etwas sagt, aber er bleibt stumm. Sagt nichts, weint nicht, macht nichts, bis Opa uns mitteilt, dass wir essen können, und ich Jaemin von meinem Schoß hebe.

30.01.2021 meine güte

black swan 𖣓 nominWo Geschichten leben. Entdecke jetzt