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Ich brauche ein paar Sekunden. "Was?"

"Ich glaube, manchmal redet sie auch mit mir", wiederholt er. "Nicht wie mit dir, und ganz bestimmt nicht so... so, aber..." Er zögert.

"Schieß los", fordere ich ihn sanft auf.

"Als du mich gerettet hast... Ich bin von einer Brücke gefallen. Aber weder absichtlich noch aus Versehen, ich hab... ins Wasser gesehen und mich hingezogen gefühlt, weißt du? Mich noch ein Stück über das Geländer gelehnt und bin gefallen und bis ich Angst hatte, musste ich erst einmal eine Weile treiben und realisieren, dass ich niemals in der Lage bin, alleine wieder rauszukommen. Und– Und als du... gegangen bist, da hab ich sie-sie angefleht, dass sie mir dich zurückgibt, und sie ist vor mir zurückgewichen, als hätte sie Angst, dass ich dich eigenhändig zurückhole. Und jetzt, bin ich aufgewacht und wollte als Allererstes an den Strand, und erst als ich hier war, wurde mir klar, dass ich dafür viel zu sehr Angst habe und, was soll ich da denn auch? Ich– Ich weiß nicht, ich kann's dir nicht erklären und es ist auch nicht das Gleiche wie bei dir, es ist nur... irgendwas... mit mir. Und ich verstehe es nicht."

Ich platziere einen Kuss auf seiner Stirn. "Möchtest du es herausfinden gehen?" Er sieht mich nur verständnislos an. "Wir können zu ihr gehen und sie fragen."

"Und woher weißt du, dass sie antwortet?"

"Weiß ich nicht. Aber ich vertraue ihr."

Weil er nichts mehr einzuwenden hat, stehe ich auf und halte ihm meine Hand hin, woraufhin er sich von mir hochziehen lässt. Er ist sicherer auf den Beinen als vorhin, aber ich schiebe dennoch meine Finger zwischen seine, als wir loslaufen.

"Wie fühlt sich das an?", fragt er leise. "Wenn sie mit dir redet?"

"Weiß ich gar nicht so genau." Ich überlege. "Ich weiß einfach, was sie meint, wenn sie mir eine Welle entgegenschlägt oder einen Fisch um meine Beine tanzen lässt. Hauptsächlich sind das aber auch Gefühle, die sie mir mitgibt. Manchmal kommt auch gar nichts und ich weiß trotzdem, was ihre Antwort ist."

"Und du weißt es immer? Was sie meint?"

Ich lasse meinen Blick über die Häuser um uns herum gleiten. "Ich... glaube schon, ja."

Jaemin sagt nichts mehr. Ich auch nicht. Bald darauf sind wir am Strand angekommen.

Wir ziehen unsere Schuhe aus und krempeln die Hosenbeine hoch, Jaemin macht mir nur zögerlich nach, und auf den letzten Schritten durch den Sand klammert er sich an meinen Arm. Ich lege meine Finger auf seine, sie sind kühl, und mache den ersten Schritt in die Brandung. Das Wasser ist kalt, aber ihre Begrüßung warm. Ich würde gerne einfach losschwimmen, aber nicht nur bin ich dafür unpassend gekleidet, Jaemin würde auch einen Kollaps bekommen, so fest, wie sein Griff ist.

"Na komm", fordere ich ihn sanft auf, denn er steht noch auf trockenem Sand, "sie beißt nicht."

Unsicher tapst er hinter mir her, erstarrt bei dem Kontakt zum Wasser, aber ihre Wellen sind sanft, also folgt er mir, als ich zwei Schritte weiter gehe. So stehen wir nur da, und ich wende mich ihm zu und umarme ihn. So fest ich kann, und er erwidert ebenso.

"Und?", frage ich in seine Schulter. Für mich selbst sind ihre Wellen beruhigend, ein alles wird gut, ein du stehst das durch, ich glaube an dich.

"Nichts. Nicht viel", ergänzt er schnell. "Vielleicht... eine Entschuldigung?"

Eine aufgeregte Welle schlägt bis an meine Hose heran. Ich muss lachen. "Scheint wohl richtig gewesen zu sein."

"Aber wofür?", flüstert Jaemin.

"Ich denke, das weißt du", erwidere ich leise. Daraufhin ist er still, nur sein Griff wird noch fester.

"Sie macht sich Sorgen um dich", stelle ich fest.

"Um mich?" Er klingt ungläubig.

"Ich... weiß nicht genau warum, aber..." Ich verstumme. Da ist noch etwas. Da ist Angst. Angst um mich. Ihre Wellen werden unkontrolliert, und wir weichen davor zurück, aber sie kommt hinterher, es ist ein Hilfeschrei, ein Geh nicht!

Jaemin stolpert ein paar Schritte weiter, als ich mich hinkauere und meine Finger in die Brandung lege. Sie greift nach mir, will mich mit sich ziehen, aber ihre Finger umfließen meine.

"Ich komme zurück", verspreche ich ihr, "ich bin dein Sohn, ich lass dich nicht im Stich." Ich greife nach der Muschel, und sie schneidet mir gezielt in den Finger. "Sei nicht so", wispere ich und lasse sie wieder los, beobachte die roten Streifen unter Wasser, "du weißt genau, dass du mir zu sehr fehlst, als dass ich das für etwas aufgeben würde."

Sie ist verzweifelt, wütend, greift nach Jaemin. Er weicht vor ihr zurück, bis zu unseren Schuhen.

"Er würde mich niemals von dir fernhalten, und das weißt du genau." Ein Teil von mir wird wütend, dass sie ihn beschuldigt, ein Teil wird traurig, dass ich gehen muss, dass ich sie hierlassen muss. "Du hast ihm schon genug Angst gemacht."

Sie kehrt zu mir zurück, traurig. Ich vergrabe meine Finger im Sand. "Morgen bin ich noch da", flüstere ich, "und ich komm auch vorbei und verabschiede mich richtig von dir. Ich versprech's. Und dann komme ich auch wieder, okay? Ich komme immer wieder."

Sie weint zuerst, aber steckt mich an. "Ich komm doch zurück." Ich schlucke. "So bald ich kann. Und– Und im Sommer, so wie früher. Okay?"

Es ist nicht das Gleiche. Es ist niemals mehr so wie früher.

"Ich weiß, dass es anders ist, aber–" Ich schluchze. "Was soll ich machen? Ich kann nichts dafür, es tut mir leid, ich kann es nicht ändern. Ich kann– Ich kann es nicht ändern. Ich kann nicht bleiben. Ich weiß, und ich will auch, aber es geht nicht. Es– Es geht nicht." Es geht einfach nicht. Ich wünschte, es ginge.

Jaemin setzt sich neben mich, und als seine Hand meine Wange streift, ganz leicht nur, unsicher, sinke ich gegen ihn und heule in seine Schulter.

"Warum musste das alles passieren?", schluchze ich. "Warum ist aus meinem Vater so ein Mensch geworden? Warum mussten wir seinetwegen wegziehen? Warum nach Seoul? Warum haben mich alle im Stich gelassen? Warum sind wir nicht geblieben? Warum–" Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will bleiben. Wenigstens beim Meer weiß ich doch, dass sie mich liebt und niemals im Stich lassen wird.

Jaemins Hand streicht über meinen Rücken, als mein Griff fester wird, er sagt nichts, und es ist nicht viel, aber es bedeutet mir die Welt. Er ist da. Er ist einfach nur da. Und er fängt mich auf, wenn ich falle.

06.07.2021

black swan 𖣓 nominWo Geschichten leben. Entdecke jetzt