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Ich bete die ganze Zeit, dass ich niemandem begegne, während ich zu Opas Haus stolpere, bete, dass er da ist, dass er allein ist. Wenigstens habe ich mich so weit zusammengerissen, dass ich nicht mehr heule.

Das Klingeln ertönt gedämpft hinter dem Holz, ich schließe die Augen, bitte, höre schlurfende Schritte und den Schlüssel im Schloss. Opa sieht mich überrascht an, als ich hochsehe.

"Nanu, was machst du denn hier?" Ich will etwas antworten, aber mir schnürt sich sofort der Hals zu, treten Tränen in die Augen, also bringe ich nicht ein Wort hervor. Opa betrachtet mich einen Moment und tritt zur Seite, um mich hereinzulassen und die Tür hinter mir zu schließen.

"Möchtest du Tee?" Ich nicke, er streicht mir über den Rücken. "Zieh dich um, hm? Sonst erkältest du dich noch. Ich mache dir einen." Damit schiebt er mich Richtung Badezimmer, ich ziehe die Tür hinter mir zu und atme einmal tief durch. Einfach zusammenreißen, das kriege ich bestimmt hin, einfach hinnehmen. Hinnehmen, dass mich ein Teil von mir selbst verlassen hat. Weil das so einfach ist.

Ich schalte mein Hirn ab, um nicht wieder draufloszuheulen, ziehe mich um und verlasse das Bad wieder. Opa hat den Wasserkocher schon aufgesetzt und stellt gerade zwei Tassen auf die Anrichte, sieht auf, als ich meine Tasche an der Haustür abstelle.

"Komm her, such dir einen Tee aus." Zögerlich tapse ich zu ihm herüber, er schiebt sich an mir vorbei, und als ich mich durch seine Auswahl gekramt und mich für einen entschieden habe, landet ein Handtuch auf meinem Kopf.

"Du tropfst", begründet Opa es, und ich trete etwas zurück, um meine Haare zu trocknen. Dabei denke ich an mein Handy, an Jaemin, aber hole es nicht aus meiner Tasche. Er fehlt mir, aber ich weiß nicht, ob ich ihn gerade ertragen könnte.

Ein Pfeifen ertönt. Ich bin davon überrumpelt, aber erinnere mich an das kochende Wasser. Gleich darauf drückt Opa mir eine dampfende Tasse in die Hand, und ich lege das Handtuch noch auf einem der Holzstühle ab, bevor er mich zum Sofa schiebt und selbst in seinem Sessel Platz nimmt, nachdem er mir eine Decke um die Schultern gelegt hat.

Dann herrscht erst einmal Stille, ich wärme mich an dem heißen Tee auf.

"Aber das hat nichts mit Jaemin zu tun, oder?", fragt Opa irgendwann.

Sofort schüttle ich den Kopf. "Das Meer", wieder ist die Plastikschnur um meinen Hals gewickelt, ich muss ein paar Mal atmen, damit sie sich lockert, "heute Morgen haben wir noch miteinander geredet, und eben hat sie beschlossen, dass wir es nicht mehr tun."

"Kannst du mir das genauer erklären?"

"Wie denn?"

"Was ist passiert?"

Ich starre durch die Fensterfront auf ihre wogenden Wellen, aber kann den Anblick nicht lange ertragen und blicke wieder in meinen Tee. "Eomma, noona und ich sind seit heute Morgen hier, noona und ich sind quasi sofort schwimmen gegangen, und während sie draußen war, haben das Meer und ich... Wir haben geredet. Ich habe nicht gesprochen, wie jetzt, sondern..."

"Auf ihrer Sprache", hilft Opa mir, als ich nicht die passenden Worte finde.

"Aber es war ein richtiges Gespräch, und sie hat mich umarmt, und ihre– ich habe ihre Hand gespürt, aber dann eben war sie so unruhig und hat mir erzählt, warum, und mich umarmt, aber mich nicht gehalten, sondern mich fast ertränkt und als sie es realisiert hat, hat sie gesagt, dass wir nicht miteinander reden sollten, weil 'sowas' dann passiert und dann war sie weg." Ich umklammere meine Tasse fester, damit meine Hände weniger zittern. "Sie meinte, dass sie zwar noch da ist, aber... Es ist nicht... Das, das–" Weil ich nicht weinen will, verstumme ich. Opa wendet mit einem Seufzen seinen Blick aus dem Fenster.

"Das habt ihr gemeinsam, Jeno", sagt er leise, "ihr wollt die, die ihr liebt, so dringend vor allem beschützen, dass ihr euch dafür selbst aufgebt."

"Aber sie hat doch auf mich gehört. Sie hat mich doch rechtzeitig losgelassen. Sie kann doch einfach vorsichtiger sein."

"Jeno, sie ist immer noch ein Meer. Ich weiß, wie stark eure Bindung ist, aber sie ist immer noch eine der mächtigsten Naturgewalten auf diesem Planeten. Glaub mir, für dich ist das vielleicht nicht gerecht, aber sie weiß, was sie anrichten kann, sie wird das nicht grundlos entschieden haben."

Ich lausche dem Ticken der Wanduhr, während ich abwäge, ob ich das sagen kann. Opa trinkt einen Schluck seines Tees.

"Wenn du mich fragst, was schlimmer ist, durch sie zu sterben oder ohne sie leben zu müssen, dann ist meine Antwort doch eindeutig."

"Versetz dich in ihre Position. Sie hat gerade fast ihren eigenen Sohn getötet, nur weil sie einmal kurz nicht aufgepasst hat, und das nur, weil sie so mächtig ist, und sie hätte es wohl nicht gemerkt, hättest du nichts gesagt, sei etwas nachsichtig mit ihr."

"Aber ich brauche sie. Und wenn sie mich verlässt, dann bin ich– Nichts bin ich ohne sie. Jeder Tag in Seoul ist Folter. Und wenn sie jetzt nicht einmal mehr hier bei mir ist–"

"Sie ist doch noch da."

"Ja, Oma ist auch noch da."

Abrupt ist es still. Ich erwarte seine donnernde Stimme, dass seine tote Frau nicht mit dem nicht mehr mit mir redenden Meer zu vergleichen ist, und ich bin zu weit gegangen, das weiß ich, aber ich weiß auch, dass der Vergleich gilt. Sie hat mich auch viel zu plötzlich verlassen, ohne sie fehlt mir auch ein Teil von mir. Nur unwiederbringlich ist sie nicht – hoffentlich. Und natürlich ist sie nicht gestorben, aber ich bin jung, und dramatisch, und deshalb fühlt es sich so an.

"Gib ihr Zeit." Opa mustert mich, als ich aufsehe. "Und ruf Jaemin an. Bevor du ihr noch blind folgst."

"Tut mir leid", flüstere ich.

"Ach Quatsch. Ich weiß, was du meinst. Aber ich mein's ernst. Was für dich neu ist, ist es auch für sie, und wenn sie darüber nachdenken muss, dann lass sie. Ich weiß, dass sie dir am allerwichtigsten ist, aber du bist es ihr auch, also kann sie dich nicht einfach an sich reißen, weil du hier noch Personen hast, die du liebst und die dich lieben. Und du weißt auch, wer das ist, du weißt, wieso du das letzte Mal wieder zurückgekommen bist."

"Sie ist mir wichtiger", sage ich leise.

"Aber Jaemin bedeutet dir fast genau so viel."

Ich weiche seinem ruhigen Blick aus. "Ich will ihm nicht wehtun."

"Und das weiß sie. Sie weiß, dass er dich braucht und du ihn. Also vergib ihr, wenn sie dich nicht einfach so mitnimmt, sondern an dich und deine menschliche Seite denkt."

Mir schwirren die Gedanken, weshalb ich die Augen schließe. "Sie fehlt mir jetzt schon", werde ich los.

"Du musst nur in dich hineinlauschen, Jeno. Zuhören. Dann ist sie da."

04.01.2022

black swan 𖣓 nominWo Geschichten leben. Entdecke jetzt