Jaemin hat das ganze Danke-Sagen von seiner Mutter.
Sie steht schon in der Wohnungstür, als wir aus dem Fahrstuhl treten - er wohnt deutlich weiter oben als ich und sieht so geschafft aus, dass ich ihm die Treppen nicht zumuten will -, und hat schon bevor wir sie erreicht haben das erste "Danke" ausgerufen.
"Gott, Jaemin, wo warst du denn? Und was trägst du da? Ist das-"
"Eomma", unterbricht ihr Sohn sie leise, "das ist Jeno. Er- hat mir geholfen und mir seine Kleidung geliehen."
Ich will mich gerade verbeugen, da hat sie meinen Kopf in ihre Hände genommen und mir über ihrer Hand quasi einen Kuss auf die Wange drückt.
"Vielen Dank, Jeno. Von ganzem Herzen. Möchtest du noch reinkommen?"
"Nein, vielen Dank. Meine Mutter macht sich sonst Sorgen."
"Wenigstens kurz", bittet Jaemin leise, sieht mich mit einem Hundeblick an, und ich seufze geschlagen, nicke.
Im Licht erkenne ich dann auch die Ähnlichkeit von Jaemin und seiner Mutter, er ist ihr geradezu aus dem Gesicht geschnitten, nur um einige Jahre jünger. An ihren Augen finden sich Lachfalten, und sie leuchten noch etwas mehr als Jaemins. Sie ist außerdem mehrere Zentimeter kleiner als er, kleiner als ich, und wiegt bestimmt trotz ihrer relativ schmalen Statur mehr, so dünn wie er aussieht.
"Komm, komm!" Sie drängt mich in die Küche. "Ich habe gerade Teewasser aufgesetzt."
"Ajumma, Sie müssen wirklich nicht-"
"Doch, natürlich muss ich! Hier, nimm dir eine Tasse!"
"Bitte, meine Mutter-"
Vergeblich. Und Jaemin ist auch nicht da, um mir zur Seite zu stehen. Ich hoffe, dass Eomma sich keine Sorgen um mich macht, aber so lange ich innerhalb der nächsten Stunde hier loskomme, sollte das nicht passieren.
"Jaemin, mein Schatz, sei so gut und gib deinem hübschen Freund seine Kleidung zurück."
Mit erhitzten Wangen tritt Jaemin zu uns, hat nur den Mantel bereits ausgezogen und hält ihn mir zusammengefaltet hin.
"Ich muss mich nur schnell umziehen", sagt er leise, "dann kannst du die anderen Sachen auch mitnehmen."
"Nein", lehne ich sofort ab, "ich kann das doch überhaupt nicht alles tragen, nachher fliegt mir die Hälfte davon."
"Bitte, Jeno, dann wenigstens den Mantel", sagt Jaemin mit Nachdruck.
Ich seufze. "Okay." Er sieht mich dankbar an und ich nehme ihm den schweren Stoff ab, wechsle ihn gegen meine Jacke, und ich merke doch deutlich einen Unterschied.
Mit einiger Überredungskunst schaffe ich es noch, den Tee nicht trinken zu müssen und nach Hause gehen zu dürfen, und Jaemin wirkt auch erleichtert. Ich schätze, es macht ihn nervös, dass ich hier bin, und seine Mutter ist so fröhlich, ich erwarte eigentlich die ganze Zeit, dass sie irgendwelche Geschichten über Jaemin erzählt.
"Bring ihn noch zur Tür", richtet seine Mutter sich an ihn, lächelt dann mir zu. "Vielen Dank nochmal, dass du meinem Sohn geholfen hast. Dafür revanchiert er sich bestimmt noch."
Ich winke ab. "Das tut überhaupt nicht Not", wehre ich ab, und Jaemin schiebt mich schleunigst wieder auf den Flur.
"Tut mir leid", sagt er leise, "sie ist immer so."
"Ihr seid euch ähnlich", lächle ich, da folgt sie uns schon. Ich verabschiede mich von den beiden und sehe, wie Jaemins Mutter ihn anstößt.
"Jeno", sagt er sofort, sieht mich erst noch an und senkt dann den Blick, "ich... Danke. Wirklich, ich- Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte."
Ich lächle ihm zu, als er aufsieht. "Schon okay. Dazu habe ich mich verpflichtet. Außerdem war es schön mit dir. Vielleicht sehen wir uns ja wieder." Damit drehe ich mich um und gehe aus der Tür.
Ich nehme die Treppe, damit ich das Herzklopfen auf die Anstrengung schieben kann.
𖣓
Ich bin ziemlich erleichtert, als ich zu Hause ankomme, da der Wind noch stärker geworden ist, als ich erwartet hatte. Aus dem Wohnzimmer höre ich Eomma telefonieren und denke sofort an Yeeun. Ich muss grinsen. Nach heute habe ich ihr endlich etwas zu erzählen. Ich muss sie sofort anrufen.
Ich hole also mein Handy aus der Manteltasche, in das ich es vorhin noch hastig geschoben habe, und stoße dabei auf ein Papier, das nicht von mir stammt.
Es ist eine Handynummer.
falls du hier sonst keine Freunde findest, denn ich würde dich gerne nochmal wiedersehen
- JMIch speichere nur noch seine Nummer ein, bevor ich mit einem breiten Grinsen Yeeuns wähle.
"Oh Wasserjunge, endlich rufst du an!"
Ich habe ihre Stimme so vermisst, dass ich sofort wehmütig werde. Ich will wieder nach Hause. Aber zu wissen, dass ich Jaemin das Leben gerettet habe, macht es wenigstens erträglicher, jetzt in Seoul wohnen zu müssen.
"Hi, noonie." So nenne ich sie, seit ich sprechen kann. "Du fehlst mir. Das Meer fehlt mir. Zuhause fehlt mir."
"Oh, mein liebster kleiner Bruder, du fehlst mir auch so sehr." Ich muss schlucken. "Ich komme in den Ferien vorbei, ganz sicher. Oder du kommst her und wir verbringen jeden Tag in deinem Meer."
"Bitte." Die Freude über das Jaemin in meiner Kontaktliste geht in dem Heimweh völlig unter. "Wenigstens haben sie hier einen Fluss. Aber es ist alles so langweilig, noonie. Alles so grau und die einzigen Geräusche sind die Autos und die Menschen. Mir fehlen sogar die Möwen. Ich würde lieber mit Opa fischen gehen, als hier zu sein." Ich wische mir heimlich über die Wange.
"Oh Jeno. Mein lieber Jeno. Du darfst nicht weinen. Du bist gerade eine Woche da, das wird besser, das verspreche ich dir."
"Es ist hier alles so anders." Ich unterdrücke ein Schluchzen. "Sie reden anders und gehen anders und die Leute an meiner Schule sind auch alle so anders. Die Sachen sind teurer und die Nachbarn fremder und alle so viel unfreundlicher. Niemand grüßt dich und niemand erkennt dich. Ich will einfach nur nach Hause."
"Jeno. Mein Wasserjunge. Es ist am Anfang immer am allerschlimmsten. Dein Zuhause ist noch da und du kannst jederzeit herkommen. Wenn du magst, kommst du an einem Wochenende und ich nehme mir frei für dich. Du kannst in meinem Zimmer schlafen und erst spätabends wieder zurückfahren. Wir gehen auch ganz viel schwimmen. Aber ich verspreche dir, dass es besser wird. Du wirst dich an all das Fremde und Neue gewöhnen und irgendwann werden die Autos dich zum Einschlafen bringen anstelle des Meerwinds. Es wird alles gut, mein kleiner Meermann. Du lernst neue Leute kennen und findest Freunde und aus dem Grau werden Farben. Du wirst dich irgendwann zu Hause fühlen, okay?"
Werde ich nicht. Ich werde niemals woanders meine Heimat haben als am Meer. Aber ich weine nur auf meine Bettdecke, die mich jetzt an Jaemin erinnert. Den hübschen Jaemin, den ich jetzt schon zwei Mal gerettet habe. Der mir seine Nummer gegeben hat. Und ich kann mich immer noch nicht freuen, nur mein Zuhause vermissen.
Yeeun erzählt mir von ihrem Studium, und ihre Stimme beruhigt mich. Ich wünschte, sie wäre wirklich hier und würde mich umarmen und hin- und herwiegen, wie sie es früher gemacht hat. Stell dir vor, ich bin das Meer, hat sie immer gesagt, und meine Arme sind die Wellen und sie tragen dich, wohin du willst. Ich frage mich, ob sie sich daran noch erinnert. Es fehlt mir. Sie fehlt mir. Wäre sie wenigstens mitgekommen, dann hätte ich nicht alles, was mir wichtig ist, zurücklassen müssen.
"Stell es dir vor, Jeno", sagt sie leise. "Stell dir vor, du bist im Meer. Und die Wellen heißen dich willkommen und tragen dich, wohin du willst."
Ich wische mir über die Augen. "Ich hab heute jemandem das Leben gerettet."
09.01.2021
DU LIEST GERADE
black swan 𖣓 nomin
Fiksi PenggemarJeno liebt das Schwimmen. Seine Mutter hat ihn deshalb alle Abzeichen machen lassen, die sie auftreiben konnte. Jeno verflucht sie dafür, bis zu dem Tag, an dem er Jaemin das Leben rettet. « Jeno ↑↓ Jaemin !slowburn !angst !sexual content (warnings...