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Ich schreibe Eomma, dass ich bei Jaemin bin, bevor wir zu ihm gehen. Er hält meine Hand die ganze Zeit fest und redet, damit ich nicht nachdenken kann. Wir gehen seinen Eltern aus dem Weg und schleichen geradezu in sein Zimmer, er macht sogar die Tür zu.

"Ich dachte, das darfst du nicht", sage ich leise.

"Einen Einlauf kann ich mir erlauben." Jaemin nimmt meinen Kopf in seine Hände und schenkt mir ein liebevolles Lächeln. "Ich will, dass du Privatsphäre und Ruhe hast. Ob um mir davon zu erzählen oder dich abzulenken."

Meine Ohren werden heiß, auch wenn er es bestimmt nicht so gemeint hat. "Ich erzähl's dir."

"Okay." Er streicht leicht über meine Wange. "Soll ich nur zuhören oder versuchen zu helfen?"

"Ich weiß nicht, ob du überhaupt helfen kannst."

"Können wir dann ja sehen." Ein letztes Mal springt sein Blick auf meine Lippen, bevor es stattdessen seine sind. Ich nehme seinen Kuss in mich auf wie sonst nichts, ich habe ihn vermisst, seine Nähe vermisst, weil sie mir Sicherheit gegeben hätte. Ich ziehe ihn an mich, noch dichter, lächelnd fährt er durch meine Haare. Nur ein einziges Mal, trotzdem entspanne ich mich sofort darunter und tippe in die Senkung auf seinem Rücken.

"Welpe", flüstert er, ich komme nicht einmal zu einer Reaktion, bevor er mich schon ein zweites Mal küsst und seine Finger meinen Haaransatz erreichen. Eine Hand lässt er dort liegen, mit der anderen dreht er Kreise meinen Hinterkopf entlang. Ich bin Schnee und seine Finger sind Sonnenstrahlen, ich schmelze unter jeder seiner Berührungen. Ich glaube, er merkt es.

Als er sich von mir löst, wohl um mich anzusehen, lehne ich mich stattdessen gegen ihn.

"Hey", sagt er leise, ich schüttle den Kopf und kuschle mich in seine Halsbeuge. Er seufzt, ohne Vorwurf, drückt mir einen Kuss auf die Wange und streicht durch meine Haare. Ich schließe die Augen und lausche seinem Atem.

"Du sagst mir, wenn du bereit bist, mich loszulassen, ja?" Ich nicke und greife noch ein bisschen fester in seinen Hoodie. "Okay. Und dann tanz ich für dich." Wieder nicke ich nur, mein Herz überschlägt sich vor Gefühlen. Ich habe ihn so unfassbar, unfassbar gern.

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Während ich ihm von meinem Wochenende erzähle, liegen wir auf seinem Bett, ich mit dem Kopf auf seiner Brust, weshalb ich seine Reaktionen dazu nicht sehen kann. Seine Finger verraten mir auch nichts, ihre Bewegungen durch meine Haare sind gleich, wenn sie nicht ruhen, wohl weil es ihm zu anstrengend ist. Aber er fährt nach einer kurzen Pause immer wieder fort. Seine andere Hand liegt bloß auf meinem Rücken, und als ich fertig bin, traue ich mich auch nicht mehr, zu ihm aufzusehen, sehe ihn stattdessen wie vor wenigen Minuten in Echt nun vor meinem inneren Auge tanzen, während ich warte.

"Mir fällt nichts Passendes ein, Jeno", wispert er nach einer gefühlten Ewigkeit, "nur dass es mir leidtut. Ich... kann mir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt."

Ich schüttle leicht den Kopf; alles in Ordnung, es muss dir nicht leidtun, ist schon okay. Ich frage mich, ob er merkt, dass da Tränen in meinen Augen sind, Tränen bereits in seinem Hoodie versickert, auch wenn ich wirklich versuche, nicht schon wieder zu weinen. Umso dringender will mein Herz aber aus meinem Brustkorb springen.

"Aegi", ich wusste es, ich wusste es, "du kannst weinen. Ich bin hier."

"Ich hasse dich", schluchze ich und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust.

Er setzt seine Finger wieder in Bewegung. "Tust du nicht, Meermann. Und ich dich auch nicht, egal, wie oft du dir einredest, dass du mir mit dem Geweine auf die Nerven gehst. Tust du nicht. Ich will für dich jemand sein, auf den du dich bedingungslos verlassen kannst, weil du das kannst, und ich verspreche dir, dass ich für dich da bin, wenn du traurig bist. Egal, warum. Und gerade in letzter Zeit ist doch immer wieder etwas gewesen, das dich unglücklich gemacht hat, immer wieder etwas, das dir wehgetan hat, und ich bin dir so dankbar, dass du dich mir geöffnet hast, aber Weinen gehört genauso dazu. Deine Gefühle rauslassen. Das ist wichtig, mein Meermann, und ich hoffe, du weißt, dass du das bei mir kannst. Immer. Egal, warum."

"Du bist nicht das Problem."

"Sondern?"

"Ich." Einen Moment lang sortiere ich mich, aber es bringt nichts. "Weil ich das Gefühl habe, dass ich nicht das Recht dazu habe."

"Hast du." Seine Stimme wickelt mich in eine Decke und bietet mir Wintertee an. "Immer."

"Es ist nur– Es ist immer so Unsinn, über den ich weine. Ich weiß, dass sie irgendwann zurückkommen wird, spätestens, wenn ich wirklich richtig verzweifelt bin, und ich weiß, dass ich über Yangyang hinwegkommen werde, und ich weiß, dass ich neue, bessere Freunde finden werde, und trotzdem heule ich deshalb immer noch rum. Ich übertreibe einfach nur."

"Tust du nicht. Du fühlst. Und was du fühlst, egal, was es ist, ist in Ordnung. Du sollst es fühlen, bitte, sonst sammelt sich das alles an und das würde schrecklich enden. Ob du das wirklich musst, ob es alles so schlimm ist, wie es sich anfühlt, das ist eine ganz andere Sache. Und das hat auch erstmal nichts miteinander zu tun. Erst fühlen und dann den Rest regeln."

"Aber es ist zu viel."

"Ist es nicht, aegi." Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht aufzuschluchzen. "Deine Gefühle sind deine Gefühle. Viel, wenig, gar nicht, unerwartet. Ganz egal. Du fühlst, was du fühlst. Und wenn du weinen musst, dann wein, ich halte dich fest und bringe dir danach ein Glas Wasser."

"Ich will so nicht fühlen", hickse ich.

"Was können wir schon gegen unsere Gefühle tun, Neptun?", flüstert Jaemin. "Fühlen oder vergraben, bis sie alle gemeinsam hochgehen. Uns durchkämpfen oder warten, bis sie uns überfallen. Fühlen ist immer besser. Und das kann manchmal richtig, richtig scheiße sein, und ungewollt und unpassend und überhaupt nicht das, was du gedacht hättest, aber so ist das. Und alles, was du tun kannst, ist lernen, damit umzugehen. Du kannst sie nicht ändern."

"Aber ich will."

"Himmel, ich weiß. Ich hab's mir auch ständig gewünscht, weißt du? Dass es mir einfach egal ist, dass meine sogenannten Freunde mich ausgelacht haben dafür, dass ich tanze. Ich meine– Aber das war's mir eben nicht, es hat mir verdammt weh getan, mich enttäuscht, und ich wollte das nicht, weil ich ja wusste, dass sie das nicht wert waren. Trotzdem war ich wütend und traurig, weil ich gerade langjährige Freunde verloren hatte, sie stattdessen zu Gegnern geworden waren, die auf mich herabgeschaut haben, obwohl sie dazu das Recht nicht hatten. Schau dir an, warum du weinst, Jeno."

"Weil meine Mutter nicht mehr mit mir spricht und ich meinem angeblich besten Freund einfach egal bin."

"Und jetzt stell dir vor, mir wäre das passiert. Würdest du mir sagen, dass ich übertreibe und zu Unrecht so fühle, aegi? Würdest du mir die Dinge sagen, die du dir selbst immer einredest?"

Er weiß genau, was er tun muss, wo er ziehen muss, damit ich aufreiße, nur damit er mich vernünftig nähen kann. Ich schüttle den Kopf.

"Siehst du", wispert er. "Und ich weiß, dass es immer leichter ist, gemein zu sich selbst zu sein. Aber das hast du nicht verdient. Du musst dich selbst wie jemanden behandeln, den du liebst. So viel hast du verdient, Jeno. Wenn du nicht weißt, wie das geht, hey, ich bin hier. Aber hör wenigstens auf, dir einzureden, dass du nicht das Recht hast, zu fühlen. Denn das hast du." Er streicht über meine Wange und ich greife sofort nach seiner Hand, halte sie vor mir, beruhige meinen Atem ein bisschen. Seine andere Hand hält inne. Ich wäge ab, kann nicht vernünftig denken, bin ihm nur so dankbar, dass es rauswill, dass mir alles so klar erscheint.

Ich drücke einen Kuss auf seinen Handrücken, schiebe meine Finger zwischen seine, nehme sie an meine Stirn. Sein Herzschlag dringt an mein Ohr, hastig, stolpert, als ich über seine Hand streiche. Zwei Sekunden Zweifel, die sich auflösen, als er wieder durch meine Haare krault. Für mehr als ein Flüstern reicht meine Stimme nicht.

"Ich liebe dich."

16.01.2021
:]

black swan 𖣓 nominWo Geschichten leben. Entdecke jetzt