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Mit seinem Tee in der Hand und meinem Kopf auf seiner Schulter setzt Jaemin sich auf sein Bett, und weil ich ihn nicht loslasse, befindet er sich zwischen meinen Beinen. Und ich habe auch nicht vor, ihn in all zu naher Zukunft loszulassen.

"Wie geht's dir?", frage ich, als wir uns arrangiert haben, weil ich mich noch überhaupt nicht um ihn gekümmert habe.

"Alles okay. Ich hätte gerne länger getanzt, aber bin zu kaputt. Wenigstens geht's mir besser als letzte Woche."

"Das ist gut."

"Ohne dich war's langweilig", sagt er leise. "Ich hab sogar Dokus geguckt, damit es sich so anfühlt, als wärst du da, aber das war eigentlich noch schlimmer, weil deine Bemerkungen gefehlt haben."

"Das lässt sich jederzeit nachholen, weißt du", murmle ich in seine Schulter. Er trinkt einen langen Schluck Tee, bevor er antwortet.

"Jetzt?"

"Wenn du willst."

"Ich hab neulich eine gefunden, über Wale, so eine Miniserie, die kennst du bestimmt schon, aber ich wollte sie trotzdem mit dir schauen."

Ich platziere einen Kuss auf seiner Wange. "Bin dabei."

"Kann... ich mich vorher noch umziehen?"

"Hmm..." Ich lasse ihn aufstehen, aber als er die Tasse auf seinen Nachttisch gestellt hat, ziehe ich ihn wieder zu mir. "Muss ich mir noch überlegen."

Ein Lächeln umspielt seine Mundwinkel. "Bitte, Jeno?" Es folgt sein Hundeblick, und innerlich werde ich ganz wabbelig-weich.

Ich lasse meine Stirn an seine Brust sinken. "Darf ich dich ausziehen?", flüstere ich in sein T-Shirt. Ich kann seinen Atemzügen folgen.

"Weißt du, was du darfst?" Jaemin hebt meinen Kopf sanft an und platziert einen Kuss auf meinen Lippen. "Lächeln", wispert er mit einem solchen, seine Stimme ist liebevoll und auf eine warme Weise auffordernd.

Natürlich muss ich davon auch lächeln, und er küsst mich wieder.

"Meine Frage beantwortet das trotzdem nicht." Ich mustere ihn, wie er sich auf die Unterlippe beißt, und schiebe, zögerlich, aufmerksam, meine Hände unter den dünnen Stoff auf seinem Rücken. In der Wölbung stoppe ich, sehe einfach weiter zu meinem Freund hoch, warte. Mit einem Ausatmen schiebt er seine Hände über meine Schultern, dabei sinken seine hinab, und er nickt leicht. Einen Moment warte ich noch, falls er sich umentscheidet, und während mein Herzschlag mir in den Ohren dröhnt, ziehe ich ihm sein Shirt aus. Er umklammert es fest mit einer Hand, und als ich einen Kuss auf seiner Brust platziere, geht ein kurzes Beben durch seinen Körper.

"Du riechst gut", murmle ich gegen seine Haut, genieße das schwache Glucksen, das mir entgegnet.

"Bevor meine Mutter jetzt noch auf irgendwelche Ideen kommt, lässt du mich los?"

"Kommst du gleich wieder?"

"Blöde Frage", murmelt er und küsst mich noch einmal, bevor ich ihn loslasse und er im Nebenzimmer verschwindet.

Ich lasse mich rückwärts auf sein Bett fallen, drehe mich, bis mein Kopf unter seinem Kissen liegt und werfe einen kurzen Blick auf mein Handy, bevor ich mich zur Wand wende und die Bilder und Poster betrachte.

Dass Jaemin zurückkommt, höre ich nicht, bemerke ihn erst, als er sich zu mir legt.

"Weißt du", fange ich an, "ich bin– Ich hab– Eigentlich, also, ich..."

"Nochmal von vorne", lächelt mein Freund.

"Ich will wieder schwimmen, aber gerade bin ich bei dir, und das ist eigentlich noch besser, aber ich war zu lange nicht mehr, aber mit dir geht auch nicht, weil du noch krank bist."

"Ich kann dich hinbringen."

"Vergiss es", entgegne ich, "deine Mutter bringt mich noch um."

"Gar nicht wahr", nuschelt er. "Wie lange hat denn das Schwimmbad noch geöffnet?"

"Bis zehn."

"Dann hast du doch noch Zeit, dich zu entscheiden." Er schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. "Und demnächst gehen wir auch wieder zusammen schwimmen."

Meine Sicht verschwimmt, aber ich weine nicht. Jaemin legt seinen Kopf auf meiner Brust ab und legt seine Hand an meine Wange.

"Ich will zurück."

Eine sanfte Fingerbewegung. "Ich weiß. Ich seh's. Deine Augen", ergänzt er, als ich ihn fragend ansehe, und mein Herz zieht sich zusammen. Jaemin rutscht höher und schließt mich in seine Arme, sodass ich das Gesicht an seiner Brust vergraben kann.

"Was hältst du davon, Neptun", wispert er beruhigend in meine Haare, "wenn wir mal schauen, wie du nach Busan kommst, wie teuer das ist, mit Monatskarte vielleicht, und wo du bleibst und so? Dann kannst du jederzeit ohne Planung einfach zu ihr fahren."

Ich nicke heftig, und er platziert einen Kuss auf meinem Haaransatz, streicht über meinen Rücken.

"Und ich komm auch mal mit", fügt er hinzu. Ich schlinge meine Arme um ihn, woraufhin seine Hand in meine Haare wandert. Ich lausche, aber das Meer ist still. Sie ist nicht da. Ich suche, flehe, und, als die Tränen sich doch nach vorne kämpfen, finde.

Wasserjunge. Wellenrauschen. Entfernt, aber sie ist da. Ich schluchze ohne zu weinen, aus nicht mehr als Erleichterung, greife nach ihr und bekomme sie doch nicht zu fassen. Stattdessen vergrabe ich meine Finger in Jaemins Hoodie.

Sie ist da. Sie ist da, sie ist da, und sie wird auch immer bleiben. Sie ist Teil von mir, sie geht nicht, auch wenn ich sie suchen muss, auch wenn sie fern scheint, ich werde immer zu ihr finden und sie zu mir.

Regen fegt mit einem Windstoß gegen das Zimmerfenster. Kurz will ich meine Hand danach ausstrecken, doch da ich das Wasser sowieso nicht erreichen kann, bleibe ich bei Jaemin. Mein Aquarium, wenn das Meer zu weit weg ist. Wenn ich sonst erdrohe, zu ersticken.

Ich rufe nach ihr, ohne mich zu rühren, sie antwortet, ohne zu reagieren. Sie ist da. Sie tröstet mich. Ich schmecke ihr Salz und spüre ihren Wind. Sie ist da, und sie bleibt. Als ich sie anflehe, verspricht sie es mir.

Es ist eine Umarmung, ihre Wellen heißen mich willkommen, und auch wenn sie nicht wirklich da sind, beruhigen sie mich. Ich atme aus.

"So ist besser", dringt mein Freund zu mir hindurch, und ich stelle fest, dass ich gerade meine Schultern habe herabsacken lassen. Noch einmal, und dann vermischt sich die Realität mit meinen Gedanken.

Wenn ich mich ausreichend konzentriere, ist da nur sie und Jaemin. Wenn ich mich nur ausreichend fokussiere, kann ich sie hören. Wenn ich alles andere ausreichend ignoriere, kann ich vergessen, dass sie eigentlich nicht hier ist.

Aber sie ist hier. Sie hat es mir versprochen. Sie hält mich und lässt mich nicht los. Sie bleibt.

Langsam, ganz langsam, hört es auf. Bis ich irgendwann tief durchatme und meinen Klammergriff um meinen Freund löse.

"Hab ich dir wehgetan?", murmle ich. Es kommt mir so vor, als wäre meine Stimme eine andere.

"Nein." Jaemins Lippen auf meinem Haar nehmen mir den Gedanken. "Bist du okay?"

Ich nicke. "Sie... hat nur... kurz ausgeholfen."

"Dann ist gut. Ist jetzt ein angemessener Zeitpunkt, dich an die Doku zu erinnern?"

"Ich will dich noch nicht loslassen", flüstere ich an seine Brust.

"Oh. Das... Das ist ein völlig valides Argument, keine Einwände."

Es entlockt mir ein kleines, winziges, Lächeln, aber es ist eins. Himmel, dieser Junge bedeutet mir so viel. Und ich hoffe, er weiß das. Ich habe mittlerweile keine Ahnung mehr, wo ich wäre, wenn ich ihn nicht hätte.

06.10.2021
happy halloween

black swan 𖣓 nominWo Geschichten leben. Entdecke jetzt