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"Ich will Montag nicht zur Schule", sage ich, nachdem wir eine ganze Weile nur in Stille gesessen haben, mein Kopf noch immer an Yeeuns Schulter vergraben, und so schnell kriegt mich hier auch keiner mehr weg.

"Warum?" Eommas Hand schwebt hinter Yeeuns Rücken und ich greife nach ihr, bevor sie sie wegziehen kann.

"Ich schaff das nicht. Ich kann das nicht."

"Warum nicht, Schatz?" Jetzt klingt sie besorgt. "Es ist doch gar nicht so schlimm, hast du gesagt?"

"Vielleicht, kleiner Meermann", wispert meine Schwester, "ist jetzt der Zeitpunkt, dass du ihr alles erzählst, sonst fehlt viel zu viel darin."

"Und dann hält meine eigene Mutter mich für verrückt."

"Worum geht's denn, mein Schatz?"

Ich schüttle den Kopf, und Yeeun streicht über meinen Rücken.

"Es hat gestürmt, während er und Jaemin in Busan waren."

"Weil unser Vater da war", zwinge ich mich zu sagen, "und er das Meer wütend gemacht hat."

"Was hat er gesagt?" Eommas Stimme hat eine Klinge erhalten, bereit, sie an seinen Hals zu setzen. Ich denke zurück und es fühlt sich glatt so an wie ein Schuss in die Brust.

"Sag bloß, meine Enttäuschung von einem Sohn ist jetzt auch noch schwul."

Abrupt lässt Eomma meine Hand los und der Motor springt kurz darauf an. "Schnall dich an, Große", schnappt sie, "dem geig ich meine Meinung, darauf könnt ihr aber Gift nehmen! Was bildet der sich ein! Scheiß Bastard!"

Wir antworten nicht, wohl vor allem, weil sie selbst ihren Ex-Mann noch nie so sehr beschimpft hat.

"Was denn!", beschwert sie sich auch sofort. "Hab ich denn Unrecht? Was fällt ihm ein! Er hat dir nicht einmal zum Geburtstag gratuliert! Der hat gar nichts mehr in deinem Leben zu sagen, in unser aller nicht! Er soll froh sein, dass seine Mutter nicht mehr lebt! Fahr zur Hölle!" Sie atmet lautstark aus. "Kaum zu glauben, wie aus der vermeintlichen Liebe meines Lebens so ein menschlicher Schandfleck geworden ist."

"Du findest noch jemanden, der besser ist", versichert Yeeun ihr.

"Ja, vielleicht. Aber Süße, ich hab euch, das ist eigentlich mehr als genug."

"Und wenn ich auszieh?" Ich schniefe. "Wer repariert dir dann die Lampen?"

"Ach, Schatz", lächelt sie, "dann muss ich das bis dahin wohl selbst lernen. Kann ja nicht jeder so Glück haben und zufällig den Traumjungen aus dem Fluss fischen. Naja, erzählt mal weiter, über mich können wir noch wann anders reden."

Yeeun übernimmt den Großteil außer bei Dingen, die sie nicht weiß, Eomma sagt nur selten etwas, und für den Weg zwischen Auto und Wohnung schweigen auch wir. Erst als alles im Flur steht und wir in der Küche eine Kanne Tee kochen, Yeeun mich auffordernd ansieht, rede ich von den Begegnungen mit meinen ehemaligen Freunden.

"Das tut mir leid, mein Schatz." Sie sieht mich so bedröppelt an wie Yeeun manchmal, und ich habe so die Vermutung, dass es in der Familie liegt. "Das ist wirklich nicht schön, und mehr als darüber zu reden kann ich dir auch nicht als Lösung anbieten. Wenn du neue Freunde findest, fällt es dir aber vielleicht leichter, deine alten loszulassen. Wenn das seine Zeit dauert, ist das vollkommen in Ordnung, hm? Aber es ist nicht aussichtslos. Du bist nicht so zerbrechlich, wie du es dir selbst vielleicht zuschreibst."

Ich male mit einem Teetropfen auf dem Tisch herum. "Fühlt sich anders an."

"Ich weiß. Und du wirst noch eine ganze Weile das Gefühl haben, dass es nie wieder besser wird, immer nur schlimmer. Aber, und das kann ich dir versprechen, mein Großer, es wird besser werden. Nicht heute und nicht morgen und vielleicht nicht vor nächstem Jahr, aber der Tag wird kommen, okay? Und wir sind für dich da, ja? Ich weiß, ich bin deine Mutter, mit mir willst du vielleicht nicht unbedingt über sowas reden, aber ich stehe dir trotzdem immer zur Verfügung, okay?"

Ich nicke nur leicht. Yeeun klaut mir den Zuckerbecher. "Der braucht uns gar nicht", grinst sie, "Jaemin kann viel besser zuhören als wir."

Ich schubse sie an. "Sei bloß still."

"Hab ich denn Unrecht?"

"Nee. Aber du weißt bei manchen Sachen viel besser Bescheid als er, und dann werd ich ihm das nicht erzählen."

"Könntest du wohl trotzdem. Aber egal!" Sie kneift mir in die Wange. "Haben wir's mit dem Bedröppeltsein? Ich bin immerhin hier, um dich aufzumuntern und nicht, um noch Salz in die Wunden zu reiben."

"Alles gut", murmle ich zu beidem, und sie steht auf und zerrt mich mit sich.

"Dann zeigen wir Eomma mal unsere neuen Klamotten!", ruft sie.

"Mein Tee wird kalt", beschwere ich mich.

"Sünde." Sie schiebt gespielt die Unterlippe vor. "Musst du dich wohl schneller umziehen." Sie drückt mir die erste Tasche in die Hand, aber wühlt gleich darauf selbst in ihr herum.

"Noonie", beginne ich, aber sie unterbricht mich.

"Ich hasse das, wenn es dir scheiße geht, weißt du das eigentlich? Und ich kann ja nicht einmal was dagegen machen. Ich kann denen nicht in die Eier treten und die Zeit nicht zurückdrehen und dir den Schmerz nicht nehmen und dich nicht zum Meer bringen, nur sinnlose Sätze sagen und dich umarmen, und es bringt nicht einmal was."

Ich nehme ihr die Sachen aus der Hand und umarme sie. "Natürlich bringt es was. Dich zu haben bringt mir schon was. Ich wär doch ein ganz anderer Mensch ohne meine wundervolle große Schwester."

"Vielleicht ja ein besserer", murmelt sie.

"Was soll das denn heißen?", ärgere ich sie, und sie gibt mir eine seitliche Kopfnuss.

"Mit dir kann man echt nicht reden."

"Noonie", sage ich wieder, "du bist toll und ich hab dich lieb und brauche dich und du hilfst."

"Komm nicht auf dumme Ideen, okay", flüstert sie.

"Nur mit dir", lächle ich, und sie schnalzt leise und schnipst mir gegen den Hinterkopf.

"Hey." Trotzdem bleiben wir so stehen, und erst als Eomma uns daran erinnert, wenden wir uns wieder den Kleidungsstücken zu.

11.08.2021

black swan 𖣓 nominWo Geschichten leben. Entdecke jetzt