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Orientierungslos schrecke ich hoch, es ist hell, es ist still, Jaemins Hände sind an meinen Wangen.

"Hey", seine Stimme ist so sanft, "Jeno, Jeno. Komm her. Komm." Er zieht mich vorsichtig wieder hinunter, auf seine Brust, und ich atme zitternd aus, halte mich an ihm fest. Ich bin voller Chaos und weiß nicht, wo ich anfangen soll, es wieder zu sortieren.

"Alles gut, aegi." Jaemin krault sanft durch meine Haare. "Alles gut."

Ich weine. Ich weine? Seit wann weine ich? Ich zittere. Nicht weil mir kalt ist. Warum–

Adeul. Luft. Nein, Wasser, ich brauche Wasser, Meer. Ich bin hier, adeul.

Ich kann nicht nach ihr greifen, kann überhaupt nichts, auch wenn ich will, ich will, ich

"Atmen, aegi. Atmen. Alles gut."

Ein unfassbarer Schmerz in meiner Brust, weil sie fehlt, weil ich so weit weg bin, weil ich nicht zu ihr fahren und bleiben kann, weil sie mir fehlt, sie fehlt mir so sehr, ich will zurück, zurück, zurück bitte

"Alles okay. Alles wird gut, aegi." Ich weiß nicht, ob es stimmt, ob er recht hat, ob es jemals wirklich wieder gut wird, denn wann ist es das schon, nur wenn ich bei ihr bin, und wann werde ich wieder endgültig bei ihr sein, werde ich das überhaupt, werde ich das aushalten, kann ich ohne sie, nein, kann ich natürlich nicht, ich kann nicht nicht nein

Es tut so weh, ohne sie zu sein. Eine Wunde, die niemals heilen wird, egal, wie viele Pflaster Jaemin noch für mich übrig hat. Es geht nicht, ich kann nicht, ich kann nicht

Du kannst. Adeul, du bist stärker als du denkst. Ich weiß, dass du leidest, aber du hältst es aus. Das weiß ich.

Ich will es aber nicht aushalten. Ich will nachgeben und dahin zurückkehren, wo ich hingehöre.

"Aegi. Atmen. Nur atmen. Alles gut."

Meer und Jaemin vermischen sich, verworren und verknotet und ich halte ihn über ihrer Oberfläche, sie trägt ihn für mich, ihre Hände sind seine, ich kann sie nicht mehr unterscheiden, es verschwimmt, ich gehe unter und stehe an Land, rufe nach Jaemin, Jeno!, er ist nicht da und sie auch nicht und dann sind sie es beide, halten mich, streiten nicht, still.

Ich hole kaum Luft. "Jaemin."

"Ich hab dich, Jeno." Liebe. "Alles gut. Du bist okay."

"Tut mir leid." Ich weiß nicht, ob er mich versteht.

"Alles okay. Wir können gleich darüber reden. Gerade musst du nur atmen. Okay? Alles gut."

Begleitet von einem leisen Winseln stupst Jageun mir gegen den Arm, weshalb ich sie streichle, und ihr weiches Fell erinnert mich daran, dass ich gerade hier bin, bei Jaemin – auf Jaemin –, und seine Umarmung verrät mir mit einem beruhigenden Lächeln, dass es okay ist. Was genau, weiß ich nicht, aber es ist okay, also ist es das auch. Und vielleicht sind seine Arme eben auch das, wo ich hingehöre.

"So ist gut", sagt er sanft, "alles gut. Einfach atmen, aegi. Mehr nicht."

Seine gleichmäßigen Bewegungen machen es leichter, ich orientiere mich an ihnen und finde wieder in einen gemäßigten Rhythmus zurück. Automatisch beruhige ich mich auch dabei, zittere nur noch, und atme den Rest Tränen weg, kuschle mich an Jaemin und streiche wieder durch Jageuns Fell.

"Das war das Meer, oder?", fragt er leise. Ich nicke. "Hast du schon die Kapazitäten, darüber zu reden?" Nein. Ich traue mich erst nicht, es zu sagen, weil er verdient, es zu wissen, immerhin hatte ich gerade – was auch immer das eigentlich war, und er hatte keine Ahnung, was los ist, und hat mich trotzdem einfach beruhigt. Außerdem will ich es ihm sagen. Aber jetzt geht es einfach noch nicht, und deshalb schüttle ich den Kopf.

"Okay. Ich frag dich später nochmal, hm? Und so lange kuscheln wir."

"Bitte", flüstere ich. Er drückt mir einen Kuss auf den Scheitel und streicht weiter durch meine Haare und wäre ich nicht so dermaßen durch den Wind, könnte ich es auch angemessen genießen.

"Alles gut", sagt er noch einmal in meine Haare, und ich lausche seinem Atem, um mich zu beruhigen.

Es funktioniert, weil er es ist. Und ein bisschen auch wegen des Hundes unter meiner Hand, aber es ist wirklich hauptsächlich wegen Jaemin.

"Was hältst du sonst davon", beginnt er zögerlich, "dass wir rausgehen? Mit Jageun? Wenn das hilft, meine ich, frische Luft und ein fröhlicher Welpe...?"

"Gleich." Ich will noch nicht aus seinen Armen müssen.

"Okay. Lass dir Zeit." Er pikt mir sanft in die Wange und fährt mit seinen Bewegungen fort, bis ich mich halb freiwillig aufsetze. Er folgt mir sofort und betrachtet mich liebevoll besorgt, nimmt meinen Kopf in seine Hände.

"Okay?", fragt er leise, ich nicke und sinke doch wieder gegen seine Schulter. Aber er sagt dazu gar nichts, nimmt mich nur wieder in die Arme und hält mich, bis ich aufstehe. Jageun, zuvor auf dem Bauch liegend, springt davon auf und auch Jaemin kommt auf die Beine, weshalb ich seine Hand nehme und wir gefolgt von der Hündin auf den Flur gehen.

Recht schweigsam ziehen wir uns an, ich bin immer noch nicht ganz klar bei Verstand, aber es ist in Ordnung, weil ich nicht allein bin. Jaemin erinnert mich an meinen Schlüssel, den ich also in meine Tasche stecke, während er Jageun anleint und ihr kurz durch das Fell wuschelt, ehe er wieder aufsteht und seine Finger zwischen meine schiebt. Ich bin ihm dankbar dafür, ebenso für das aufmunternde Lächeln, das er mir schenkt, obwohl er das eigentlich viel mehr verdient hat.

Erst einmal in Stille gehen wir los, was mir nicht sonderlich guttut, aber Jaemin scheint es zu merken und spricht mit mir, erzählt mir von Renjun und den anderen, fragt mich nach Sungchan und Shotaro, und so bescheuert ich mich dabei auch fühle, irgendwie hilft es. Ich komme runter, und vor allem zu mir selbst zurück. Es ist nicht mehr alles in mir, das danach schreit, in den nächsten Zug nach Busan zu steigen und dort für immer im Meer zu verschwinden.

09.03.2022

black swan 𖣓 nominWo Geschichten leben. Entdecke jetzt