Kapitel 4 - Landen

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Ich habe gewusst, dass es erbärmlich werden würde. Aber jetzt tatsächlich vor dieser Wohnungstür zu stehen und anzuklopfen, fühlt sich wesentlich schlimmer an, als ich es mir ausgemalt habe.

Verdammter Mist, ich bin achtundzwanzig Jahre alt und bin im Inbegriff, bei meiner sieben Jahre jüngeren Schwester zu klingeln und wie ein Versager bei ihr angekrochen zu kommen.

Seufzend hebe ich die Hand und drücke auf den Schalter neben der Tür, auf dem drei Namen, darunter der meiner Schwester, stehen. Es hat keinen Sinn, mir hier die Beine in den Bauch zu stehen, denn früher oder später muss ich den Schritt ohnehin machen.

Keine Ahnung, was sie dazu sagen wird, ob sie enttäuscht von mir sein wird, schließlich habe ich vielleicht meine gesamte Zukunft in den Sand gesetzt. Meine Zukunft, das Geld unserer Eltern und den Namen unserer Familie.

Fuck... vielleicht hätte ich doch nicht herkommen sollen. Ich hätte angestrengter nach einer anderen Lösung suchen sollen.

Doch gerade, als ich überlege, ob ich noch genug Zeit habe, um die Flucht zu ergreifen, wird die Wohnungstür geöffnet und meine jüngere Schwester steht vor mir, das für sie typische offene Lächeln auf den Lippen.

Zerknirscht verziehe auch ich die Mundwinkel, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir mein Lächeln nicht abkauft. Denn Ivys Augen weiten sich überrascht und sofort geht sie in den Alarm-Modus über. Ihre Emotionen zu unterdrücken, ist ihr noch nie besonders gut gelungen.

„Landen? Was machst du hier?", fragt sie überrascht.

Na toll, war ja klar, dass sie zuerst danach fragen wird.

Seufzend fahre ich mir durch das kurze Haar und trete nervös von einem Fuß auf den anderen.

Was passiert ist und weshalb ich hier bin, ist nicht gerade einfach zu erklären, vor allem nicht der sieben Jahre jüngeren Schwester, mit der Mann über solche Dinge absolut nicht sprechen möchte.

„Darf ich erstmal reinkommen?", frage ich, weil ich dieses Gespräch absolut nicht zwischen Tür und Angel führen möchte.

Sofort nickt Ivy und springt zur Seite, damit ich ihre WG betreten kann. Ich kann ihr ganz genau ansehen, wie durcheinander sie mein plötzliches Auftauchen macht.

Ich hätte ihr vielleicht doch Bescheid geben sollen, um sie nicht einfach so zu überrumpeln. Allerdings stelle ich mir diese Situation am Telefon oder als Nachricht noch viel unangenehmer vor.

„Bleibst du länger?", kommt auch schon die nächste Frage aus Ivys Mund geschossen, als sie meinen Seesack bemerkt.

Wenn das Ganze nicht so furchtbar absurd wäre, hätte ich vielleicht gelacht. Egal, wie alt meine Schwester wird, sie entwickelt einfach keine Scham, die Fragen, die ihr gerade auf der Zunge liegen, direkt auszusprechen.

Bei Leuten, die sie nicht kennen, schafft sie es mittlerweile oft, sich zurück zu halten. In meinem Fall macht sie das allerdings nie.

„Ähm... nein... oder vielleicht doch, ja.", antworte ich zögernd und streife mir die Jacke von den Schultern. „Also, wenn das für dich in Ordnung ist."

Jetzt habe ich Ivy vollkommen verwirrt. Mit gerunzelter Stirn stemmt sie die Hände in die Hüften und sieht mich fragend an.

Wieder seufze ich laut, bevor ich einmal tief durchatme und es einfach über mich bringe. Früher oder später werde ich es ihr ohnehin sagen müssen.

„Die Airline hat mich auf unbefristete Zeit suspendiert und mein Vermieter hat mich fristlos gekündigt."

Meine Stimme klingt dabei überraschend nüchtern, ganz so, als würde ich meiner Schwester die Überschrift eines Zeitungsartikels vorlesen und ihr nicht mitteilen, dass ich mein Leben an die Wand gefahren habe.

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