Kapitel 1 - Summer

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Die Leere ist erdrückend. Sie raubt mir den Atem und nimmt meinem Körper alle Energie. Ich glaube, ich habe mich noch nie zuvor so kraftlos und ausgelaugt gefühlt.

Dabei ist heute der letzte Tag meiner Sommersemesterferien. Genau heute sollte ich ausgeruhter sein, als an keinem anderen Tag im Jahr.

Müde reibe ich mir mit den Handflächen über das Gesicht, bleibe dabei in der vordersten Strähne meines schwarzen langen Haares stecken und ziehe sie mir halb aus dem Messy-Bun, für den ich heute früh eine halbe Stunde vor dem Spiegel gesessen habe.

Fluchend reiße ich mir das Haargummi aus dem schwarzen Bündel und lasse meine schwarze Mähne stattdessen einfach über meinen Rücken fallen. Gleich darauf folgt mein Kopf auf der glänzenden Tresenfläche der Flughafen-Bar.

Ich bin fertig damit, Haltung zu wahren und vor zu gaukeln, dass ich alles im Griff habe, dass es mir nichts ausmacht, meine Ferien haargenau durchzuplanen und keine Freiheiten zu haben, dass ich die letzten vier Wochen in ein und derselben Stadt gelebt habe, mich aber gleichzeitig gefühlt habe, als wäre ich ständig zwischen zwei verschiedenen Kontinenten herumgereist.

„Kann ich dir noch was bringen?"

Es ist der Barkeeper, der mich aus meinem Strudel aus Selbstmitleid und Verzweiflung zieht. Irritiert schiele ich zu dem gutaussehenden Schwarzhaarigen hoch. Er ist kaum älter als ich. Dann fliegt mein Blick zurück auf das leere Glas direkt vor meinem Kopf. Als die Flughafen-Durchsagen verkündet haben, dass vorerst alle Flüge stillgelegt sind, habe ich mich kurzerhand an diese Bar verdrückt und einen Orangensaft bestellt. Doch gerade ist mir nach etwas deutlich Stärkerem zu Mute und das, obwohl es erst einmal drei Uhr am Nachmittag ist.

Aber ich stecke hier fest. Denn da draußen in meinem heißgeliebten Chicago tobt ein Schneesturm und legt alles lahm.

Ein fucking Schneesturm. Im September! Und das an dem Tag, an dem ich eigentlich einfach nur noch hier weg möchte. Es fühlt sich an wie Verrat.

Chicago ist schon immer meine Heimat gewesen, mein Zuhause. Der Ort, an den ich immer zurückgekehrt bin, wenn ich Trost gebraucht habe.

Doch es fühlt sich an, als würde die Stadt diesen Effekt mit jedem Mal, das ich zurückkehre, verlieren. Denn in Chicago muss ich mich bei jedem Besuch mehr und mehr verstellen, mich am besten in zwei Teile teilen und das Schlimmste, ich spüre zunehmend, wie ich hier immer weniger ich selbst bin.

In Chicago verliere ich meine heißgeliebte Freiheit und meine Spontanität. Denn jeder einzelne Tag ist bis zur letzten Minute durchgetaktet.

„Ein Gin-Tonic bitte.", ergebe ich mich schließlich meinem inneren moralischen Konflikt.

Alkohol am helllichten Tag? Ich bin eine Studentin und heute ist ein Ausnahmezustand. Das ist mir Erklärung genug.

Außerdem ist September und ich sitze wegen eines Schneesturms auf dem Flughafen fest.

Ich spüre den Blick des Kellners nur zu deutlich. Er überlegt, ob er mich nach meinem Ausweis fragen sollte, entscheidet sich dann aber doch dagegen. Dabei hätte er es ruhig tun können. Seit dem zweiten September diesen Jahres bin ich sogar schon zweiundzwanzig. Doch die Erinnerung an meinen Geburtstag, lässt meine Laune noch weiter in den Keller sinken.

Wahrscheinlich ist es meckern auf hohem Niveau. Von außen betrachtet, habe ich zwei unglaublich aufwendige Geburtstagspartys organisiert bekommen, habe mich zwei Mal an einem Tag mit Kuchen vollgestopft und bin zwei Mal mit Geschenken und Liebe überschüttet worden. Aber nichts davon ist die Geborgenheit gewesen, die ich mir so sehr zurückwünsche.

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