Nähe

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Ich habe immer gedacht, ich hätte meine Mimik, meine Stimme und vor allem mein Herz gut unter Kontrolle. Es ist wie eine Art Voraussetzung in dem Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin.

Seine Gefühlsregungen offenzulegen, sie für andere Menschen sichtbar zu machen, ist wie als hätte man eine klaffende Wunde nicht versteckt, es dauert meist nur eine kurze Zeit, bis die Löwen und Hyänen darauf aufmerksam werden. Die meisten Personen, mit denen ich den Großteil meines bisherigen Lebens verbracht habe, riechen eine Schwäche sieben Meilen gegen den Wind und zögern nicht, ihre spitzen Zähne darin zu vergraben und sich festzubeißen.

Doch gerade jetzt, wo ich vor einem der gefährlichsten Raubtiere überhaupt stehe, gelingt es mir nicht einmal, meine Atmung zu beruhigen.

Außerdem bin ich mir fast sicher, dass Aleksander meinen Herzschlag hören kann. Dieses kleine, verräterische Ding, hämmert gegen meinen Brustkorb.

Reiß dich zusammen Avery!

Um wieder etwas Fassung zurückzugewinnen, verschränke ich die Arme vor der Brust und setze ein provokantes Lächeln auf.
"Sagen Sie das zu jeder Kandidatin, die Sie in ihr Zimmer mitnehmen? Hat es die anderen von den Socken gehauen als Sie ihnen das Zimmer gezeigt haben?"

Ein Muskel an seiner Wange zuckt, doch sein Gesicht bleibt nervtötend ausdruckslos als er erwidert: "Sagen Sie es mir, immerhin sind Sie die Erste. Das ist wohl in gewisser Weise eine Premiere."

Eine Weile sage ich nichts, sondern betrachte ihn nur forschend. Kann es sein das er die Wahrheit sagt, welchen Grund hätte er mich anzulügen?

Schließlich reiße ich meinen Blick von Aleksander los und erlaube stattdessen meinen Augen gemächlich, im Zimmer umherzuschweifen. Sie bleiben an einem Gemälde, das an der Wand mit den zwei Türen hängt.

Das Zimmer ist nur teilweise erhellt und so spenden lediglich eine filigrane Schreibtischlampe und eine weitere Lampe mit einem überdimensional großen Schirm etwas Licht.

Trotzdem erkenne ich es fast augenblicklich.

Ich versuche gar nicht erst mein viel zu lautes: "Oh mein Gott!", zu unterdrücken. Am Rande meines Blickfeldes sehe ich, wie Aleksander schnell ein sanftes Lächeln versteckt, als er den Grund für meine Begeisterung erblickt.

"Das Floß der Medusa", vor Ehrfurcht ist meine Stimme nur noch ein dünner Hauch. "Ist...", ich muss mich räuspern, um die dümmliche Ehrfurcht aus meiner Stimme zu verbannen. "Ist es das Original?"
Ich schaffe es den Blick von einem der monumentalsten Meisterwerke der Kunstgeschichte zu lösen und merke, dass Aleksander beinahe beleidigt aussieht.

"Denken Sie, ich würde etwas anderes als das Original hier aufhängen?", mit einem Mal stört mich die Überheblichkeit in seiner Stimme nicht mehr. Gegen das Lächeln, welches sich auf mein Gesicht schleicht bin ich machtlos.

Dann wende ich mich wieder dem Gemälde zu und betrachte es genauer.

Das Bild zeigt fünfzehn, in Lumpen gekleidete Menschen auf einer Art Floß.
Auf die notdürftig zusammengebundenen Balken des Floßes haben sich Verzweifelte gerettet, die zwischen Toten ausharren. Ein Mann stemmt sich mit dem rechten Bein auf einem Weinfass in die Höhe. Um seinen linken Arm hat er rote und weiße Fetzen aus Stoff gezerrt, er schwenkt sie in Richtung eines fernen Punktes am Horizont: zwei Rahsegel über den Wellen, man sieht sie kaum vor dem Morgenhimmel. Ein Schiff. Treibt es der Wind in Richtung Floß, oder fällt es ab?

𝐭𝐡𝐞 𝐟𝐢𝐫𝐞 𝐲𝐨𝐮 𝐬𝐭𝐚𝐫𝐭𝐞𝐝 - 𝐞𝐫𝐰ä𝐡𝐥𝐭 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt