Kein besonders hoher Sturz

900 55 5
                                    

Das königliche Casting hat begonnen. Seit nun mehr einer Woche halten sich fünfundzwanzig glückliche, junge Kandidatinnen im Palast der Königsfamilie auf. Gestern mussten bereits vier der Damen den Wettbewerb wieder verlassen. (Das vollständige Live-Video der gestrigen Entscheidung finden Sie auf unserer Website: www.wellbron.rav)
Einen ersten Eindruck konnten wir bereits dank der von Gabriel Vanderwoods geführten Interviews gewinnen. Sowie die Ladys, als auch die drei Männer von denen einer der nächste Herrscher unseres geliebten Landes werden wird, bekamen an ihrem zweiten Tag einige Fragen gestellt. Natürlich wurde das Interview der Prinzen von vielen tausend Menschen sehnlichst erwartet und so waren viele etwas enttäuscht von den sage und schreibe zwei minütigen Interview der drei. Nichtsdestotrotz hatte das Volk von gestern bis zum heutigen Tag Zeit, eine Stimme für ihre Favoritin abzugeben.

Auf der nächsten Seite folgt eine Liste der Kandidatinnen mit den entsprechenden Platzierungen. Wir sind ohne Frage sehr gespannt was die nächsten Wochen noch alles passieren wird und werden Sie weiterhin auf dem Laufenden über Rawkas Casting halten.

Mein Herz schlägt ein weiteres mal zu schnell. Im Raum ist es so still das man unsere Atemzüge hören kann.
Dann sagt Scarlett, welche ihre Gabel umklammert hält mit ungeduldiger Stimme: "Jetzt blättert schon um!"
Daraufhin beugt sich Emory vor und schlägt die Seite um.

Kein Atmen ist zu vernehmen. Es ist als würde jede von uns die Luft anhalten. Meine Augen hetzen über die Tabelle voll mit Namen.

Offenbar steht die schlechtplazierteste an oberster Stelle, dann geht es entsprechend nach unten. Meine Augen erfassen die Namen und ich schlucke als ich meinen nicht sofort entdecke. Um mich herum ertönen nun diverse Flüche die man eigentlich nicht von einer zukünftigen Herrscherin erwartet hätte.
Alles in mir verkrampft sich während meine Augen bereits weiter zu Nummer sechs gleiten. Haben sie mich vergessen?
Als ich schlucke höre ich neben mir einen spitzen Schrei, gleich darauf kippt mein Stuhl nach hinten. Er wird so heftig nach hinten gerissen das ich völlig perplex erstarre.
Automatisch halte ich die Luft an. Leider reagiere ich dadurch zu spät. Ich kann nichts weiter tun als mit aufgerissenen Augen keuchend meinem Stuhl zu folgen. Ich falle rückwärts zu Boden und sobald mein Rücken den harten Marmor berührt weicht mir alle Luft aus den Lungen. Gleich darauf schlägt auch mein Kopf auf und ich sauge wieder frische Luft durch zusammengebissene Zähne in meinen Körper. "Avery!", die Stimme kommt von irgendwoher. Ich kann es nicht einordnen weil mein Verstand von plötzlichem Schmerz vernebelt ist. Wieder keuche ich abgehakt, kann aber ein verdammtes Wimmern unterdrücken.

Um mich herum reden alle wild durcheinander.
"Wieso sagt sie nichts?"
"Abelyn bist du jetzt völlig durchgedreht?"
"Also wirklich, so schlimm kann es doch garnicht gewesen sein. Sie lechzt doch bloß nach ein bisschen Aufmerksamkeit."
"Avery?", ich glaube diese Stimme gehört Falleen.

Ich kann nur daliegen und wie bescheuert mit keuchenden Atemzügen nach Luft schnappen. Ich komme mir vor wie ein Fisch der plötzlich auf trockenes Land trifft.

Dann höre ich eine andere Stimme: "Was ist hier passiert?"
Als ich den Kopf in die Richtung der Stimme drehen will überkommt mich ein pochender Schmerz in meinem Kopf. Bevor ich es verhindern kann stöhne ich vor Schmerzen auf.

"Antwortet", wieder die Stimme, ich denke sie gehört Aleksander aber mein Kopf dröhnt und ich beiße die Zähne zusammen.

Ich höre wie jemand etwas sagt doch ich kann es nicht verstehen. Meine Lieder schließen sich von selbst auch wenn ich versuche dagegen anzukämpfen.
Das letzte was ich spüre ist wie sich starke Hände unter meine Kniekehlen und etwas vorsichtiger um meinen Rücken schlingen. Dann werde ich gegen eine Brust gedrückt und als hätte jemand das Licht ausgeknipst wird plötzlich alles schwarz.
-
Ein dumpfes Pochen in meinem Kopf bringt mich dazu das Gesicht zu verziehen. Ich hätte wohl die Augen aufgeschlagen wenn ich nicht in dem Moment ein leise geflüsterte Worte vernommen hätte. "Denkst du dein Vater findet so etwas amüsant?", die Stimme desjenigen klingt nahezu hysterisch als die Person weiterredet: "Und was ist mit dir? Findest du so etwas amüsant? Was wirst du tun? Schließlich ist es genauso deine Schuld. Ist ja nicht so als hätte sie dich mit den Augen ausgezogen." "Klar, sie hat nur ganz zufällig in meine Richtung gesehen gerade als der Mann die Fotos schoss." Ein Seufzen, einen Moment herrscht Stille. "Du konntest von Anfang an deine Augen nicht von ihr lassen." Wieder Stille. Dann: "Ich bin weder dir, noch meinem Vater Rechenschaft schuldig. Es gibt im Moment wichtigere Dinge um die ich mich kümmern muss und das weißt du."
Ich kann dem Gesprächsverlauf nicht folgen. In meinem Kopf herrscht immer noch Leere, bis auf den leichten Druck, den ich in meinem Hinterkopf vernehme. Unfähig mich zu bewegen, geschweige denn die Augen zu öffnen gleite ich wieder hinab in die Schwärze.

Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase und ich verziehe das Gesicht bevor ich zögerlich die Augen öffne. Gleich darauf schließe ich sie aber wieder aufgrund der unerwarteten Helligkeit. Reflexartig wandern meine Hände zu meinen Augen und bedecken sie um die vor dem gleißenden Licht zu schützen. Als ich sie nach einer Zeit wieder öffne muss ich mehrmals blinzeln um ein scharfes Bild von meiner Umgebung zu bekommen. Als meine Augen schließlich langsam im Zimmer umherschweifen gelange ich zu dem Schluss das dies wohl das Krankenzimmer sein muss. Aber überraschender Weise ist es nicht weiß- steril oder unpersönlich. Ganz und gar nicht. Mir gegenüber steht ein großer, massiver Schrank aus dunklem Holz in dessen Türen teilweise Glasscheiben eingelassen wurden. Dadurch kann ich Stücke seines Inhalts erkennen. Ich sehe jede Menge einzeln eingepackte Wundkompressen, daneben Verbandsrollen und eine Box die über und über mit Scheren gefüllt ist.

Neben dem Schrank hängt ein kleines Gemälde. Es zeigt ein Kriegslazarett, zwei Reihen aufgestellter Feldbetten bergen etwa ein Dutzend verwundeter Soldaten. Heilerinnen eilen zwischen den eng zusammengepferchten Klappbetten umher, manche mit weit aufgerissenen Augen, voller Tatendrang und gutem Willen. Andere ruhig und gefasst während sie einem der Kriegsverwundeten einen Verband um das Bein wickeln oder eine Wundkompresse auf eine Wunde pressen.

"Oh, Sie sind wach, das ist gut", die Stimme ertönt so unvermittelt das ich den Kopf herumreiße.

In der Tür steht eine gänzlich in weiß gekleidete Frau, sie ist jung, etwa zwanzig Jahre alt. Mit kurzen, blonden Haaren und grauen, wachsamen Augen. Dann bemerke ich die Narbe, welche sich quer über ihre Wange von einem Ohr bis zu dem Kinn zieht.

"Ich bin Rielle, eine der königlichen Heilerinnen." Ein schmales Lächeln erscheint auf ihrem gezeichneten Gesicht. Ich hebe einen Mundwinkel an. "Hallo, mein Name ist Avery." Ihr Lächeln wird breiter als sie erwidert: "Das ist mir bekannt. Wie fühlen Sie sich?"

Endlich tritt sie ganz in den Raum und die Tür fällt hinter ihr ins Schloss. Sie hält ein Klemmbrett in der Hand an dem ein Stift befestigt ist. Rielle zieht ihn aus der Halterung und blickt zu mir auf. Ich zucke vage mit den Schultern. "Soweit gut, denke ich. Es war kein besonders hoher Sturz." Sie nickt bedächtig und tritt zu mir an das Bett. Eine ihrer Hände verschwindet kurz in der Tasche ihres Kittels und taucht kurz darauf mit einer schmalen Taschenlampe wieder auf.

Dann gibt sie mir Anweisungen wie: "Folgen sie bitte der Lampe mit den Augen", oder "jetzt bitte eines der Augen zuhalten und das gleiche nochmals."

Nach etwa drei Minuten sieht Rielle von ihrem Klemmbrett hoch und betrachtet mich. "Ihr Sturz scheint keine bleibenden Folgen hinterlassen zu haben, dennoch ist Ihr Kopf auf den Boden aufgeprallt, es könnte also sein das Ihnen an diesem und dem folgenden Tag etwas schwindlig wird. Jedoch sollten Sie sich schnell wieder erholen." Ich schürze die Lippen und nicke. "Wenn die Kopfschmerzen schlimmer werden oder Sie das Gefühl haben sich erbrechen zu müssen  kommen Sie bitte unverzüglich wieder hier her. Kopfverletzungen sollten ernst genommen werden."

Ich nicke und bedanke mich. Sie schreibt etwas auf das Klemmbrett und ich beobachte sie. Sie kann nicht älter als dreiundzwanzig sein, soweit ich weiß beendet man sein Medizinstudium ungefähr mit siebenundzwanzig Jahren.

"Fürs Erste war das alles. Ach ja bevor ich es vergesse, vor der Tür wartet eine Miss. Carrington auf Sie."

𝐭𝐡𝐞 𝐟𝐢𝐫𝐞 𝐲𝐨𝐮 𝐬𝐭𝐚𝐫𝐭𝐞𝐝 - 𝐞𝐫𝐰ä𝐡𝐥𝐭 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt