Kapitel 36

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Tagelang versucht man, eine Minute seines Lebens zu vergessen.

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Es war bereits stockdunkel. Die Bäume des dichten Waldes streiften an mir vorbei. Ich erkannte nur ihre Umrisse.

10 Minuten vorher

Mit Tränen gefüllten Augen drehte ich meinen Kopf langsam zu Brandon. Grinsend blickte er mir entgegen und nippte provozierend an seinem Weinglas, währen mir eine Träne die Wange hinunterrollte.

,,Du mieses Schwein", konnte ich nur mit zittriger Stimme von mir geben. Meine Kehle fühlte sich wie zugeschnürt an. Ein enormer Druck herrschte tief in meiner Brust.

Wie er dort saß und sich über mein Leid beglückte. Mir war plötzlich vollkommen egal, warum und weshalb er nicht mehr er selbst zu sein schien. Es war mir egal, dass ich ihn in diesem Moment nicht wieder erkannte. Doch es war mir nicht egal gewesen, was er gerade getan hatte. Auch wenn es nicht direkt er selbst gewesen ist. Er wusste wie alles enden würde und tat rein gar nichts, um es zu verhindern. Stattdessen lachte er mich nur aus, mit einem Blick welcher mir verriet, wie stolz er auf sich und sein Vergehen war. Er klopfte sich womöglich imaginär auf seine Schulter.

Gegenwart

Ohne Regung saß ich da und starrte aus dem Fenster. Starrte mit leerem Kopf in die Dunkelheit, in welcher ich glaubte immer noch die dichten, grauen Rauchschwaden erkennen zu können.

10 Minuten vorher

,,Jetzt hab dich nicht so. Dir wurde schließlich klar und deutlich zu versteh gegeben, was passieren würde, solltest du die Warnung von Mister X ignorieren". Er sah mich bei dieser Aussage kein einziges Mal an. Schwenkte nur die rote Flüssigkeit in seinem Weinglas konzentriert umher. Leichte Falten auf seiner Stirn waren zu erkennen.
Seinem plötzlich komisch auftretenden Verhalten, schenkte ich keinerlei Aufmerksamkeit, denn die Wut überkam mich. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und erhob mich von meinem Stuhl. ,,Was ist nur los mit dir?!", keifte ich ihn an. ,,Findest du das etwa normal?! Ein Menschenleben zu nehmen nur, weil man nicht nach irgendeiner Pfeife tanzt?!". Zum Schluss hin brach meine Stimme und ich schluchzte auf. Ich war kurz davor gewesen, mich zu verlieren. Mich der tiefen Trauer, welche ich so schmerzlich verspürte hinzugeben. Aber das wollte ich auf gar keinen Fall tun. Nicht vor ihm. Denn dann hätte er gewonnen. Er würde wissen, er hat mich gebrochen.

,,Oh, wir wissen noch nicht, ob er tot ist", meinte er gelassen. ,,Solche wie er, sind leider nicht so einfach zu töten". Brandon stand von seinem Stuhl auf und lief auf das große Fenster zu. Nachdenklich runzelte er seine Stirn. ,,Obwohl, wenn ich mir das da draußen genauer anschaue, hatte er wohl keine so große Chance gehabt, um da lebend herauszukommen". Seine Mundwinkel zuckten nach oben. Stellten somit ein zufriedenes Lächeln dar.

Gegenwart

Ich stieg aus der Limousine und lief mit langsamen Schritten ins Innere des Schlosses. Es war tiefste Nacht. Im Schloss brannten nur ein paar der Wandlichter, die mir nur spärlich den Weg zu meinem Zimmer erhellten.

10 Minuten vorher

Brandon stand immer noch mit dem Rücken zu mir gewandt vor dem Panoramafenster. Ich beobachtet ihn dabei, wie er seinen rechten Zeigefinger anhob und ihn auf den Earbud legte. Ich war mir sicher, jemand sprach zu ihm. Schien ihm etwas mitzuteilen.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in mir auf. 'Könnte Kayl vielleicht doch noch am Leben sein?' Mein Herz, welches so schon viel zu schnell schlug, setzte nochmals einen drauf. Aufmerksam betrachtete ich Brandon. Versuchte von der Seite seine Mimik zu erhaschen. Zu deuten. Zu verstehen.

Nachdem Brandon seine Hand wieder sinken gelassen hatte, drehte er sich zu mir um. Sein Blick lag stets auf seinem Glas.

Scharf zog ich die Luft ein. Tränen der Freude sammelten sich nun in meinen Augenwinkel. Wechselten jedoch ziemlich schnell wieder zu Trauertränen, als ich bemerkte, wie Brandon anfing breit zu grinsen.

,,Ich nehme meiner Worte von vorher wieder zurück. War doch leichter als gedacht"

Gegenwart

Ich ließ meine Zimmertür hinter mir ins Schloss fallen und lehnte mich mit dem Rücken an das dunkle Holz. Wie automatisch schon, glitt mein Blick auf die Badezimmertür. Unnötigerweise. Denn dort würde keiner mehr drin stehen und auf mich warten. Nie wieder mehr.

Als mich diese Erkenntnis schmerzhaft traf, brach der Damm endgültig. Schluchzend sackte ich zu Boden. Hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. Energisch zog ich mir den schwarzen Blazer von den Schultern und schleuderte ihn durch den Raum. Mit meinen Fäusten schlug ich auf den Teppich. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr.

Ich schloss meine Augen und zog an meinen Haaren. Zog so fest dran, bis meine Kopfhaut anfing zu schmerzen. Ich wollte, dass dieser Schmerz meinen inneren Schmerz übertönte. Doch das war pures Wunschdenken. Nichts, was ich in dem Moment getan hätte, hätte mir den Schmerz genommen, welchen ich in dieser Nacht verspürte. Also zwang ich mich dazu, mich wieder zu beruhigen. Zwang mich dazu, tief ein und auszuatmen. Es war noch nicht vorbei. Noch nicht. Noch war ich hier. Noch hatte ich es nicht geschafft. Und ich war allein. Auf mich vollkommen allein gestellt. Musste mich zusammenreißen, um einen klaren Kopf zu bewahren. Also wischte ich mir meine Tränen, mit den Händen von den Wangen und zog mich am Bettgestell wieder auf die Beine. Ich konnte jetzt nicht schlapp machen. Ich durfte nicht. Denn würde ich das tun, war ich verloren und ich konnte das nicht zulassen. Nicht nach all dem, was ich und Kayl schon hinter uns hatten.

Ich beugte mich runter, um mir meine Schuhe von den Füßen zu ziehen, als ich einen Umschlag auf meiner Bettdecke, am Fußende des Bettes bemerkte. Kurz überlegte ich, ob ich ihn überhaupt öffnen wollte. Ob ich überhaupt wissen wollte, was drin stand. Zögerlich griff ich nach ihm und zog das weiße Papier heraus. Auch wenn ich keinerlei Bedürfnis verspürt hatte ihn zu lesen, so entfaltete ich ihn trotzdem. Ob es die reine Neugierde war, die mich das tun ließ oder ich es einfach schon automatisch aus Gewohnheit tat, wusste ich nicht.

Ich senkte meinen  Blick auf die von Hand geschriebenen Zeilen und fing an zu lesen.

Kayl war für mich von Anfang an ein Dorn im Auge. Schon ab dem ersten Tag, an welchem er das Schloss betrat.....

Mister XWo Geschichten leben. Entdecke jetzt