Mister X

Kapitel 39

Tropfen für Tropfen schlangen sich ihren Weg hinunter auf den schon klitschnassen Balkonboden. Die glatten Fenster der Balkontüren, ließen den Tropfen keinerlei Chance länger als nötig darauf zu verweilen. Sie blieben nur so lange haften, bis ihnen ein anderer Tropfen in die Quere kam und erbarmungslos mit nach unten zog.

Ich biss mir auf meine Unterlippe und fuhr mit meinen Fingerspitzen leicht über die nassen Spuren, welche die klaren Wassertropfen auf der anderen Seite der Balkontüre hinterließen. Ein heller Blitz erleuchtete nur kurzfristig die dunklen Wolken über dem Schloss. Mein Blick glitt zum Laptop, welcher immer noch auf meinem Bett lag. Entschlossen lief ich darauf zu. Ich zog an den Schleifen meines Bettes, welche die Vorhänge an Ort und Stelle hielten. Ließ sie mein gesamtes Bett verdecken. Auch, wenn die Vorhänge nur aus feinem Tüll bestanden, so fühlte ich mich dennoch etwas geschützter vor den Kameras in meinem Zimmer. Ich setzte mich auf die Mitte des Bettes, legte den Laptop auf meinen Schoß und klappte ihn auf. Mit zittrigen Fingern tippte ich das Passwort ein. Z248002. Ich konnte mich lange nicht entscheiden, ob ich ihn nun entsperre oder nicht. Jedoch beschloss ich, dass ich unbedingt wissen musste, was sich dort für Dateien befanden. Dateien, welche mir Kayl die ganze Zeit über versucht hat zu verschweigen.
Der Laptop fuhr hoch und vor meinen Augen entfachte der Startbildschirm. Eine Vielzahl von Ordnern bedeckten den gesamten schwarzen Hintergrund. Schnell überflog ich alles mit meinen Augen und entschied mich den Ordner mit der Aufschrift 'NL' als Erstes zu öffnen. Doppelklick.
Eine Gefängnisakte erschien vor meinen Augen.

Name: Nolen Leen
Geburtsdatum: 07.11.1990
Straftat: Mord
Haft: Lebenslang

Ich überflog die geschriebenen Worte darunter.

Gewalttätiger Mord an Grace und Bordon Leen.....Expertise ergab.....mehrere Verletzungen auf Rücken und Oberkörper durch Auspeitschung......Brandwunden an Händen......Knochenbrüche durch einen stumpfen Gegenstand....offene Wunden....Todesursache: Blutverlust...

Ich blickte auf die rechte Ecke des Blattes, wo das Foto von Nolen abgebildet war. Meine Augen weiteten sich.
Brandon.
Ich schüttelte meinen Kopf. 'Nein, das kann nicht sein'

Mit rasendem Herzen, schloss ich einem 'Klick', das Dokument und öffnete einen anderen Ordner mit der Aufschrift ,Projekt Stewart'. Ich scrollte. Steckbriefe. Es waren Steckbriefe von allen Kandidatinnen, allen Angestellten, allen Security-Männer und die Steckbriefe von Cole, Thalila und Brandon. Ich stoppte auf dem Steckbrief von Brandon.

Name: Brandon Leen
Geburtsdatum: 07.11.1990
Eltern: Grace Leen und Bordon Leen
Geschwister: Nolen Leen

Nolen Leen. Es war also nicht die Gefängnisakte von Brandon. Es war die seines Bruders. Seines Zwillingsbruders. 'Grace Leen und Bordon Leen', las ich erneut. 'Er ermordete seine eigenen Eltern?'
Ich schluckte. Das Baumhaus. Es war nicht Brandon gewesen. Es war Nolen. Ich hatte von Anfang an bemerkt, dass er anders war. Er schien an diesem Abend wie ausgewechselt. Es war nicht er.
'Wie oft gab es diesen Rollentausch? Wie oft habe ich geglaubt, ich würde mit Brandon reden, anstelle von einem Mörder, der zur lebenslangen Haft verurteilt wurde? Befindet sich Brandon überhaupt in diesem Schloss? Habe ich Brandon überhaupt kennengelernt oder war es die ganze Zeit über sein Bruder gewesen?'

Ich massierte meine Schläfen. Nun verstand ich, warum mir Kayl diese Infos verschwiegen hat. Wüsste ich nämlich davon, wäre ich niemals erneut auf ein Date gegangen. Mir lief ein Schauer den Rücken hinunter. Ich habe mich mit einem Mörder getroffen. Womöglich habe ich ihn auch noch geküsst. Mir wurde schlecht. Um nicht noch einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, schloss ich auch dieses Dokument.

Noch bevor ich jedoch weitere Ordner öffnen konnte, wurde meine Zimmertür schlagartig geöffnet und ein aufgewühlter Theo stürmte herein.

,,Mira!", rief er aufgebracht und zog den Vorhang meines Bettes zur Seite, um meinen Arm daraufhin zu packen und mich aus dem Bett zu ziehen. ,,Wir müssen sofort hier weg!", schrie er schon fast und zog mich in Richtung Tür.