|·Sieben·|

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"Tante Béatrice?"

Breit grinsend blickte meine Tante zu mir auf. 

"Surprise, ma petite fille!", rief sie und trat einen Schritt an mich heran, um mich zu umarmen. Überrumpelt ließ ich sie machen, legte meine Arme um sie. 

(AN: 'Surprise, ma petite fille' bedeutet soviel wie 'Überraschung, mein kleines Mädchen')

"Was machst du denn hier? A-also, was... ich... hä?"

Béatrice lachte. 

"Isch dachte mir, dass es mal wieder an der Zeit ist, meine Nischte zu besuchen!", erklärte sie mit ihrem stark französischen Akzent, während ich sie an mir vorbei ins Haus ließ. 

Drinnen wurde sie direkt von Jaques begrüßt, welcher sich bellend auf die Hinterläufe stellte. Schmunzelnd bückte sich Béatrice, um ihn zu streicheln. 

Ich schloss währenddessen die Tür und stelle Béatrice nicht gerade kleinen Koffer zur Seite. Wie lang wollte sie bitte bleiben?

Béatrice war die jüngere Schwester meiner Mum gewesen. Sie war ziemlich klein, brünett und hatte große braune Augen. Dem Klischee entsprechend trug sie so gut wie immer ein französisches Barett, sowie blutrot geschminkte Lippen. 
Sie kam Dad und mich immer mindestens einmal im Jahr besuchen, im Sommer durfte ich sogar manchmal nach Frankreich, um die Ferien bei ihr in Paris zu verbringen. Sie war auch - neben Mum natürlich - der Grund, weshalb ich fließend Französisch sprach. Ich hatte es zwar erst in der sechsten Klasse begonnen zu lernen, jedoch hatten die beiden und ich uns meistens auf Französisch unterhalten, was nicht selten in einer Mischung aus Französisch und Englisch geendet war.

"Irre isch misch oder ist es 'ier trist geworden?", fragte sie, direkt wie eh und je, als wir zusammen das Wohnzimmer betraten. Und als wäre ich zum ersten Mal in diesem Raum, sah ich mich um. 

Sie hatte schon Recht. Die Wände weiß gestrichen, grau-weiße Möbel, ein graues Sofa mit weißen Kissen. Das einzige Farbenfrohe waren die Kinderfotos von mir, die über dem Sofa an der Wand hingen. Sonst war es wirklich ziemlich trist und monoton gestaltet. 

"Erzähl, ma fille. Wie geht es dir? Wie läuft die Schule?", fragte meine Tante, während ich ihr etwas Wasser in ein Glas schenkte. 

Und das war ein Punkt, in welchem sie sich von Dad unterschied. Während er, wenn er diese Fragen stellte, nur meine Noten wissen wollte, so bezog Béatrice ihre Fragen auf alles. Wir telefonierten nicht sehr oft, allein wegen der Zeitverschiebung zwischen Frankreich und Amerika, aber auch wegen meiner Schule und ihrer Arbeit. 
Aber wenn wir die Möglichkeit hatten, dann redeten wir über alles. Während die meisten anderen Mädchen ihre Geheimnisse mit ihren Freundinnen teilten, so teilte ich meine Geheimnisse mit meiner Tante. Ich wusste, dass ich ihr alles erzählen konnte, ohne verurteilt oder schief angesehen zu werden. 

Und auch wenn Béatrice fragte wie es lief, so meinte sie nur selten meine Noten. Sie war dann auf Antworten bezüglich der Klasse oder der Lehrer aus. Sie hörte mir zu, gab manchmal den einen oder anderen lustigen Kommentar ab oder gab Ratschläge, wenn etwas nicht gerade toll lief. Für mich war es manchmal so, als hätte sie so etwas wie eine Mutterrolle angenommen. 

"Mir geht's soweit ganz gut. Schule ist auch okay, ich hab 'nen neuen Lehrer in Mathe und Französisch!", fasste ich meine Lage knapp zusammen. Doch - wie immer - merkte Béatrice, dass mehr dahinter war, weshalb sie nur gekonnt die Augenbraue hob. 

"Das ist nischt alles, ma fille, oder?", fragte sie und nahm das Wasserglas entgegen, welches ich ihr reichte. 

Ich seufzte leise.

"Nicht jetzt, ja? Ich muss noch für einen Test lernen..."

Béatrice lächelte sanft. 

"Schon gut, ma fille... Ein Vorschlag: ich rischte mich 'ier ein und du lernst für deine interrogation... okay? Und 'eute Abend führen wir ein Damengespräch, okay?"

(AN: interrogation bedeutet soviel wie Klassenarbeit, Arbeit)

Ich lächelte dankbar, ehe ich nickte. 

"Du bist die Beste, Béatrice!", sagte ich, weshalb die Brünette vor mir lachte.

"Das weiß isch doch, ma fille!", schmunzelte Béatrice, während sie gespielt arrogant ihre braunen Haare über die Schulter warf. 

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Am Abend lagen Béatrice und ich bei ihr im Gästezimmer auf ihrem Bett, eine Kuscheldecke über uns ausgebreitet und zwischen uns mein aufgeklappter Laptop, auf welchem wir uns bis gerade eben eine französische Serie angesehen hatten, die Béatrice liebte. 

Nun, da der Abspann der Folge lief, klickte meine Tante einmal und das Video wurde angehalten. Anschließend schloss sie das Programm und fuhr meinen Rechner herunter, ehe sie diesen auf eine Kommode stellte und anschließend wieder zu mir ins Bett schlüpfte. 

"So... jetzt geht der offizielle Teil des Abends los!", sagte sie entschlossen und lehnte sich leicht zurück, sah dabei jedoch immer noch zu mir. 

"Mit was soll ich nur anfangen?", fragte ich mich selbst. Tante Béatrice zuckte mit den Schultern.

"Fang einfach an zu sprechen, ma petite. Irgendwann, tout viendra tout seul", schlug sie vor.

(AN: 'tout viendra tout seul' bedeutet soviel wie 'alles kommt von allein')

Ich holte noch einmal tief Luft, bevor ich zu erzählen begann. Ich erzählte ihr von allem. Von Mr. Malek, den Geschehnissen im Matheunterricht, den Geschehnissen in Französisch, sowie dem Moment in seinem Büro. Auch erzählte ich ihr von meinem Ausbruch auf der Mädchentoilette. Einfach alles sprudelte aus mir heraus wie ein Wasserfall, immer mehr Details vermischten sich. Ich merkte zwar, dass Béatrice ab und zu mal ein paar Wendungen, die ich benutzte, nicht ganz verstand, jedoch unterbrach sie mich nicht. Stumm hörte sie mir zu, nickte ein paar Mal, dass sie - wenigstens zu 95 Prozent - verstand, was ich sagte. 

"... und deshalb glaub ich, dass er auch psychisch ziemlich instabil ist, wie ich. Aber er kann es besser verdecken als ich! Du müsstest ihn erleben, er lächelt in der Klasse so gut wie nie, aber trotzdem mögen wir ihn alle. Es ist... kompliziert... schätze ich", endete ich schließlich meine Erzählung. 

Kurz herrschte eine Stille zwischen meiner Tante und mir. Sie schwieg, vermutlich versuchte sie gerade meine Erzählung zu strukturieren und die Details, die ich manchmal an sinngemäß völlig unpassenden Stellen erwähnt hatte, zu ihrem eigentlichen Bezugspunkt zuzuordnen. 

Währenddessen holte ich tief Luft. Irgendwie fühlte ich mich etwas befreiter als vorher. Irgendwie froh, dass das alles raus war, was ich bis jetzt nur für mich behalten hatte. Aber wenn ich jetzt so drüber nachdachte, klang meine Geschichte irgendwie abgedreht. Wie ich mit meinem Lehrer umsprang, wie wir aneinander gerieten, im nächsten Moment jedoch plötzlich über die psychische Instabilität des Anderen Vermutungen anstellten. 

Vorsichtig schielte ich zu Béatrice. Wie dachte sie über meine Geschichte?

"Dieser Monsieur Malek scheint disch rischtig durscheinander zu bringen, ma fille", waren die ersten Worte, die Béatrice sagte. Sie sah zu mir. 

"Aber isch stimme dir zu... allerdings finde isch, dass du vielleicht mit ihm reden solltest, ma fille. Er ist zwar dein professeur, aber so wie du es schilderst, ist es vielleicht nischt einmal nur das, was zwischen eusch ist. Gebrochene Menschen sind sisch oft ähnlicher, als sie denken. Vielleicht ist er ja auch wie du, ma fille. Das er einfach jemanden zum reden braucht, hm?"

(AN: 'professeur' bedeutet soviel wie 'Lehrer')

✓|Addicted to my TeacherWo Geschichten leben. Entdecke jetzt