Kapitel 36.1. - Ithuriel's Riddle

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Kapitel 36 – Ithuriel's Riddle

Grünes Gras umgab mich. Über mir breitete sich ein strahlend blauer Himmel in alle Richtungen aus. Keine einzige Wolke war zu sehen. Das Licht leuchtete von allen Seiten auf mich herab, sodass mein Körper keinen Schatten auf der Wiese hinterließ, die sich um mich herum in die Endlosigkeit auszubreiten schien. Einige Dutzend Meter von mir entfernt wuchs ein einziger, riesiger Baum in die Höhe, sein Stamm breiter als jeder den ich zuvor gesehen hatte. Unter dem dichten Blätterdach und gegen jenen Stamm gelehnt, saß Ithuriel. Seine gewaltigen, weißen Schwingen waren gegen das kahle Holz gesunken. Er wirkte friedlich und hatte nichts mehr mit der Gestalt gemein, der ich zuletzt unter dem Anwesen der Waylands begegnet war.

Der Engel hob den Kopf, als hätte er mich bemerkt. Seine langen, schlanken Gesichtszüge waren übermenschlich schöner Natur. Beinahe symmetrisch; und doch funkelte etwas Menschliches in seinen Augen. Ein sanftes Lächeln breitete sich auf Ithuriels vollen Lippen aus und er hob eine perlfarbene Hand in einer fließenden Bewegung zum Gruß.

„Ich habe dich bereits erwartet", verkündete er mit seiner tiefen, melodischen Stimme, die mir bereits aus vergangenen Träumen bekannt war und ich schritt zaghaft näher an ihn heran. Ich antwortete nicht. Stattdessen starrte ich ihn weiter an und versuchte, jedes Detail seiner ästhetischen Erscheinung in mich aufzusaugen. Der Gedanke, dass jemand diesem Geschöpf absichtlich wehgetan hatte, schmerzte nun noch mehr.

Ithuriel bemerkte meinen Blick. Wie konnte er auch nicht? „Wenn du Fragen hast, dann stelle sie." Er sagte es so zwanglos, als wären wir langjährige Freunde, die Belanglosigkeiten austauschten. Tatsächlich konnte ich das Gefühl der Zugehörigkeit in meiner Brust nicht leugnen, welches ich immer dann verspürte, wenn ich ihm nahe war.

„Wie hat mein Vater es geschafft, einen Engel zu beschwören?", fragte ich in ähnlich lässigem Ton, wagte es aber nicht, weitere Schritte auf den Engel zuzugehen. Die Frage nagte seit seiner Entdeckung unter dem Anwesen an mir.

„Es existieren einige wenige, uralte Beschwörungsrituale, die aber sehr schwierig durchzuführen sind", erklärte Ithuriel und ich lauschte dem Klang seiner harmonischen Stimme. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich ihn bisher nur in meinem Kopf hatte sprechen hören. „Valentin ist schon immer ein überaus ehrgeiziger Mann gewesen. Er hat Jahre gebraucht, aber nicht aufgegeben, bis er das Ritual schließlich gemeinsam mit einem mächtigen Hexenmeister durchführen konnte, den er danach tötete."

Die Erklärung machte Sinn und doch wunderte ich mich, dass ein so wichtiges Ritual wie die Engelsbeschwörung über die Jahrhunderte einfach in Vergessenheit geraten war. Hingegen wunderte es mich kein bisschen, dass mein Vater davon gewusst hatte. „Ist das hier ein Traum?"

Ithuriel schüttelte den Kopf. „Mir ist es nicht gestattet, deinen Körper aus deiner Welt zu entfernen, aber dasselbe gilt nicht für deine Seele. Für eine kurze Zeitspanne kann ich sie zu mir rufen."

„Also ist das hier der Himmel?" Eine Mischung aus Erstaunen und Unglaube schwang in meinem Ton mit und schaute mich auf der Wiese um, deren Unendlichkeit mir nicht wirklich bekam.

Ein kleines Schmunzeln zierte Ithuriels makelloses Gesicht. Jede Bewegung, die er machte, wirkte eleganter als die zuvor. „Nicht wirklich", gab er dann zu. „Es ist eine Illusion, die ich für dich schaffe. Dein menschliches Bewusstsein ist nicht in der Lage, den Himmel in all seinen Sinnen zu begreifen. Es würde dich verrücktmachen."

„Dann gibt es den Himmel also wirklich." Ich lachte ein Lachen, das nervös und erleichtert zugleich klang.

Diesmal schenkte der Engel mir ein eher geheimnisvolles Lächeln. „Wir nennen ihn nicht so und er ist bestimmt nicht der Ort, den die Menschen sich in ihren Köpfen ausmalen."

The Rise Of The Morningstar (Clace)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt