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PoV Benjamin

Immer noch wie in Trance fuhr ich über eine Landstraße. Rechts abbiegen, dann links nochmal rechts und dann geradeaus. Und dann am Ortsschild vorbei, aufs Gas.
Im Hintergrund heulte der Motor, doch das nahm ich nicht mehr richtig war. Schneller, schneller. Die Geschwindigkeit gab mir einen Kick, sie ließ mich kurz etwas spüren. Für den Bruchteil einer Sekunde, nein weniger, für einen Augenblick.
Ich vernahm noch ein anderes Geräusch schräg vor mir, dann direkt neben mir, dann sauste es vorbei. Wahrscheinlich ein anderer Autofahrer. Hinweis: Ich befinde mich in Gefahr wenn ich mich mit einen derartig hohen Geschwindigkeit fortbewege. Aber das ist jetzt alles egal. Völlig gleichgültig. In den Hintergrund geschoben, ignoriert.
Das nächste Ortsschild, zu schnell, eine Kurve. Mit aller Kraft auf die Bremse. Mit pochendem Herzen ließ ich das Bremspedal wieder lockerer. Ich spürte einen Schweißtropfen meine Stirn herunterrinseln. Verdammt.
Tot. Sie war tot. Für immer von der Bildfläche verschwunden. Und niemand konnte sie davor bewaren. Oder etwa doch? Hätte ich ihr helfen können? Hätte ich einen Zugang zu ihr gehabt?
Doch das war jetzt zu spät. Ich habe versagt. Ich habe auf gesamter Linie als ihr Freund versagt. Und das obwohl sie mir so verdammt wichtig war. Ich kannte dieses Mädchen mit den braunen seidigen Haaren, dem niedlichen Lächeln und den grünen Augen doch schon so unendlich lange. Nein, korrigiere: ich habe gedacht sie zu kennen.
Niemals dachte ich, dass sich hinter jenem so wunderschönen Lächeln ein derartiger, ungreifbarer Schmerz verbarg. Hätte ich es doch bloß früher erkannt... hätte ich ihr doch besser geholfen, sie unterstützt.
Zitternd stieg ich mit einem Fuß auf die Kupplung, drehte ich den Schlüssel wieder um und hörte das Auto anspringen. Blinker setzen und weiterfahren. Nur noch eine Straße weiter, dann war ich da. Vor dem Haus meiner Eltern, in dem auch ich lebte stellte ich das Auto ab und stieg aus.
Mein Blick wanderte wie von selbst die Straße entlang bis ganz ans Ende. Mein Herz setzte eine Sekunde lang aus, denn genau hier hatte Mia gewohnt. Vor ihrem Aufenthalt in der Psychatrie und noch viel wichtiger, vor ihrem Tod.
Langsam stieg ich die Treppen zur Haustür hoch und drehte den Schlüssel im Schloss um. Mit einem sanften Kicken öffnete sich die Tür. Ich trat ein und legte meine Jacke und die Schuhe ab. Dabei sah ich kurz in den Spiegel. Aus ihm zurück blickte nicht mehr das ich, welches mir bisher bekannt war, nein. Ein anderer Mensch sah mir entgegen, mit verweinten Augen, Ringen darunter und verstrubbelten Haaren. Nein, ein Teil meines ichs ist mit ihr gegangen. Er ist mit ihr vom Turm gesprungen, mit ihr elendig am Boden zerschollen und gestorben.
Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, wie viel ich für diesen Menschen wirklich empfand. Nein, wahrscheinlich hätte ich es ihr niemals gestanden, aber ich mochte sie, falsch ich hatte sie mehr gemocht, als ich es wahrscheinlich sollte.
Doch ich habe es akzeptiert, dass sie nie etwas erwiedert hat. Gefühle sind etwas unkontrollierbares und nichts an ihnen sollte verwerflich sein. Ja, so würde ich es vermutlich jeder anderen Person predigen, doch mir selbst? - Wohl doch eher nicht.
Ja, Mia war der Mensch an deren Seite ich mein Leben verbringen wollte, doch das war jetzt ausradiert. Zu Nichte gemacht, gelöscht.
Vielleicht hätte ich ihr erklären sollen, wie ich für sie empfinde, vielleicht hätte ich eine Stütze für sie sein können, ihr Ruckgrat.
Doch all das war jetzt irrelevant. Völlig egal.
"Miau.", vernahm ich plötzlich vom Boden neben mir und als ich hinabblickte sah ich Moarle. Mias geliebte Katze. Ich kauerte mich zu ihm auf den Boden, streichelte über sein Fell und flüsterte: "Du verstehst die Welt auch nich mehr, oder mein Kleiner?"
Ich fühlte wie sich meine Augen langsam mit Tränen füllten. Ich setzte mich auf den Boden. Der Kater schnurrte und kuschelte sich an mich. Noch nie zuvor in meinem gesamten Leben hatte ich eine derartige Leere gefühlt, ein unendliches nichts in mir und all das weil eine Person in meinem Leben fehlte, diese eine Person.
Die Tränen rannen nur so aus meinen Augen, ja ich war verloren, verwirrt, traurig und ja vielleicht auch wütend.
Ich wollte das Universum dafür bezahlen lassen, dass es sie aus meinem Leben gerissen hatte. Ja verdammt, ich dürfte mich noch nicht einmal von ihr verabschieden, ihr Lebwohl sagen.
Selbst das wurde mir verwährt. Und somit schwor ich mir, ich hatte allen Grund sauer zu sein. Auf die Menschen, die ihr alles angetan hatten, auf mich selbst, der nie wirklich versucht hatte sie zu retten und irgendwo auch ein wenig auf sie. Dafür dass sie weg war, mir nie davon erzählt hatte, wohin sie verschwinden wollte.
So saß ich nun hier alleine, gefangen in der blanken Realität: nie wieder würde ich in ihre Augen blicken können, nie wieder durch ihre Haare streichen, nie wieder ihre Stimme hören. Bei diesen Gedanken stiegen mir wieder Tränen in die Augen, "Verdammt Welt, warum bist du nur so grausam?", ich hatte es ohne zu merken laut ausgesprochen. Neben mir hörte ich ein zustimmendes, zumindest hätte ich es als ein solches gedeutet, miauen.
Ein Geräusch ließ mich aufhorchen, es war die Türklingel die ging. Wer in alles in der Welt würde das jetzt sein? Meine Eltern waren in der Arbeit und sonst wusste niemand, dass ich hier war. Eigentlich hatte ich gerade Religionsunterricht, doch ich konnte nicht mehr einfach in der Schule sitzen und nichts tun, außer den Fakt versuchen zu ignorieren, dass der Stuhl neben mir nun auf ewig leer war.
Langsam schleppte ich mich zur Tür. 'Ein Fuß vor den anderen, du kannst das.', versuchte ich mir selbst gut zuzureden, doch es brachte augenscheinlich rein gar nichts.
Irgendwie schaffte ich es dann doch noch bis zur Tür. Atmen, Kinke herunterdrücken, Türe nach innen ziehen.
Doch vor ihr stand jemand, mit dem ich wohl überhaupt nicht gerechnet hätte. Schwarze lange Haare wehten im Wind vor mir und eisblaue Augen sahen direkt in meine. Kein Zweifel, dieses Mädchen hätte geheimnisvoller nicht sein können und doch glaubte ich sie zu kennen.

When I fall apart || ABGESCHLOSSENWo Geschichten leben. Entdecke jetzt