Langsam öffnete sich die Tür zu meinem Zimmer ein Stück weiter und ich sah die Person, welche den Raum betrat. Mein Atem gefrohr in diesem Moment zu Eiskristallen und ein Zittern durchlief meinen gesammten Körper. Sie konnte nicht nicht existieren. Doch diesmal kannte ich ihre Absicht, sie wollte mich abholen.
Das Licht des Zimmers legte ihr Lächeln frei, so eiskalt und schaurig, dass mir jegliche Freude verging.
"Komm doch mit mir.", sprach sie in einer, für ihre Maßstäbe freundlichen Stimme. "Dann bringen wir es zu Ende.", fügte sie schmunzelnd hinzu und ihre Mimik verhärtete sich wieder. "Oder muss ich dich dazu zwingen?", ergänzte sie und hob ihre Hand etwas an, damit ich das Taschenmesser sah, welches sie hielt.
Zitternd stand ich auf. Zitternd stand ich auf gleicher Höhe mit ihr. Zitternd sah ich ihr tief in die eisblauen Augen.
"Gibt es dich wirklich?", fragte ich sie fast schon flüsternd.
"Es kommt darauf an, wie man es sieht.", antwortete sie mir wiederum mit einer eisigen Stimme und strich ihr langes Haar hinter eines ihrer Ohren. "Aber nun komm, es ist Zeit für uns... zu gehen."
All meine Alarmglocken schrillten bei diesen Sätzen, doch was hatte ich schon zu verlieren? Hatte ich jemanden, der mich ernsthaft vermissen würde. - Nein. Wohl eher nicht.Kyra streckte ihre Hand nach meiner aus und ich legte meine hinein. Sie fühlte sich anders an, als ich dachte, nicht besonders rau, sondern eher weich und verletzlich. Zwei Attribute, die definitiv nicht zu dieser Person passten. Hand in Hand schlichen wir über den Flur. Aus einem der Zimmer sah man einen Lichtstreifen über den Boden gleiten. Wir versuchten möglichst leise zu sein, keine Aufmerksamkeit zu erregen, einfach leise zu fliehen.
Kyra wustte wohin wir gehen würden und ich folgte ihr ohne mich zu wiedersetzen. Vermutlich wäre das alles nie so gekommen, wenn mein Bruder noch leben würde, doch leider hat der Tod ihn sich geholt und so gab es nichts mehr auf dieser Welt, das mich hielt. Am Eingang angekommen, zog Kyra eine Zutrittskarte aus ihrer Hosentasche und legte sie auf den Sensor. Die Tür pipste leise und öffnete sich. Ich konnte die Abendluft riechen, ich konnte die Freiheit, welche ich nun hatte einfach nicht fassen.
Kyra führte mich durch die Nacht, wir überquerten einige Straßen, liefen durch Gassen und menschenleere Plätze bis wir an einem hohen Gebäude, vermutlich dem höchsten dieser Stadt ankamen.'Hierauf müssen wir gehen.', signalisierte Kyra mit einem Handzeichen nach oben. Ich folgte ihr, als sie begann die Stufen hinaufzusteigen. Stufe für Stufe, dem Himmel entgegegen liefen wir.
Nach einigen Miuten erreichten wir eine Metallklappe, welche Kyra knarzend nach oben öffnete.
Sie stieg zuerst auf das Dach und reckte dann die Hand aus, um mich ebenfalls hinaufzuziehen.
Plötzlich erschauderte ich: Jenen Ort kannte ich, damals, als ich noch im langweiligen Religionsunterricht saß, schlief ich immer wieder ein und hatte immer denselben Traum. Den, in welchem Kyra mich dazu zwang etwas zu tun, was ich nicht wollte, doch heute fühlte es sich völlig anders an.
Wir befanden uns auf einem ziemlich hohen Turm am Rande der Stadt, in welchem die Psychatrie stand. Unter uns sah man einen Wald, einen Wald mit hohen Nadelbäumen und zwischen ihnen sah man immer wieder helle Lichter, vermutlich Glühwürmchen. Der Wind blies durch meine langen Haare und endlich fühlte ich mich frei und unbeschwert. Die Grillen hörte man leise zirpen und ich sah zu Kyra hinüber. Nicht einmal mehr sie wirkte auf mich angsteinflößend, alles fühlte sich okay an.
"Gefällt es dir?", raunte sie zu mir hinüber.
"Ja.", antwortete ich ihr.
"Es fühlt sich magisch an, wie in einem Wald, in welchem Elfen in der Nacht fliegen."
Es stimmte, es war genau wie der Wald, welchen ich immer gezeichnet hatte, der Wald, welcher mich überallhin begleitet hatte. Ein Produkt meiner Phantasie.Doch eigentlich gab es für mich die Begrenzung nicht mehr, sie war wie aufgelöst. Phantasie und Realität, sie verschwammen, sie gingen inneinander über. Waren nicht mehr das, was sie einmal für mich waren.
"Sheela und Lenya sind Geschwister.", begann Kyra zu erzählen und setzte sich an den Rand des Turmes. Ich setzte mich zu ihr und hörte ihr zu.
"Die beiden unterscheiden sich völlig voneinander, doch eines verbindet sie: Sie sind beide von einem tragischen Unfall gezeichnet. Weißt du.", erklärte mir Kyra.
"Beide hatten einen schweren Autounfall, bei dem ihr Vater ums Leben kam. Daraufhin ließ ihre Mutter sie alleine, kümmerte sich nicht mehr und verschwand plötzlich, wie wenn sie sich in Luft aufgelöst hätte, nachdem sie beide Mädchen so verletzt hatte, dass sie in die Klinik eingeliefert werden mussten.
Beide versuchen es auf ihre eigene Weise zu verkraften: Sheela versucht mit niemanden mehr zu sprechen, weil sie sich ganz allein die Schuld dafür gibt und Lenya, naja, sie überspielt alles mit ihrer freudigen Art, doch tief im Inneren ist auch sie sehr verletzt. Die beiden sind wie die Sonne und der Mond, sie gehören eigentlich zusammen, um die Welt im Gleichgewicht zu halten, doch tun sie das nicht, stürzt alles in Chaos.", gebannt lauschte ich Kyras Worten und schlussendlich ergab alles für mich einen Sinn. Die beiden hatten sich dazu entschlossen Abstand zueinander zu waren, so zu tun, als ob sie sich noch nicht einmal kennen würden, um den Verlust zu verarbeiten.
Ich hatte noch nicht einmal die Chance die Trauer mithilfe meines Bruders zu überstehen, da genau er es war, um den ich trauerte. Er wurde aus meinem Leben gerissen und alles, was ich wollte war ihn wiederzusehen. Wieder mit ihm vereint zu sein. Mit ihm zu fliegen. Bis zu den Sternen und wieder zurück, wie wir es uns immer als Kinder vorgestellt hatten. Damals, als unsere Welt noch in Ordnung war, als unsere Familie noch nicht in Trümmern lag.
"Dann geh, flieg mit ihm.", antwortete Kyra, als hätte sie meine Gedanken lesen können.
Eine weitere Stimme hörte ich flüstern: "Ich warte auf dich. Komm Mia, flieg zu mir. Lass uns miteiander leben, lass uns vereint sein."
Diese Stimme würde ich von tausenden unterscheiden können, es war Vincents Stimme. Die Stimme, die mir immer Trost spendete, mich immer auffing, immer für mich da war. Es gab nichts auf dieser Welt, das ich mich sehnlicher wünschte als bei ihm zu sein.
Langsam erhob ich mich aus meiner sitzenden Position. Ich breitete die Arme aus und konnte die Schwingen von Flügeln fühlen, ich breitete sie aus, bewegte sie auf und ab und stieß mich vom Rande des Turmes ab und flog.
Ich breitete meine Flügel aus und flog los, um wieder mit meinem Bruder eins zu werden.THE END
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When I fall apart || ABGESCHLOSSEN
Ficção AdolescenteMias Leben war noch nie wirklich leicht für sie auf dieser Welt gewesen: Aufgrund ihrer stetigen Verträumtheit, ihrer Kreativität und dem frühen Tod eines ihrer Familienmitglieder, wurde sie bereits in Kindesjahren extrem gemobbt, was dann auch Spur...