Augen, kalt wie Eis

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"Ihr wisst was zu tun ist.", beendete sie ihren Auftritt und auf ihr Stichwort kam ihr Gefolge, das aus vier Personen bestand, die, mit ihren geflochtenen Zöpfen, auf mich zu kamen - meine Befürchtung erfüllte sich nun. Eine Faust berührte unsanft mein Gesicht und ich spürte einen unaussprechlichen Schmerz in meinem Unterkiefer, den ich, erschrocken wie ich war, aus Reflex berührte, doch es war ihnen egal. Ich spürte einen weiteren Schlag von links, der nun voll auf meinen Brustkorb ging und mir für kurze Zeit die Luft nahm.

Anfangs schien ich die Angriffe noch voraussehen zu können, doch es machte keinen Sinn. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich schaute in die selbstgefälligen, aber doch so wunderschönen Augen, von Ayumi, die einige Meter von mir entfernt stand und die ganze Szene genoss.

Schon wenige Sekunden später lag ich auf dem steinigen Boden, weil mich meine Beine nicht mehr tragen konnten. Ich spürte Tritte an meinem Oberkörper, doch es wurde um mich herum plötzlich ganz still.

Ich konnte die Tritte wahrnehmen, doch die abfälligen Bemerkungen und widerwärtigen Beleidigungen blieben aus, obwohl ich sehen konnte, dass sich ihre Münder bewegten.

Ich wurde so müde, weswegen ich meine Augen schloss und sie einfach weitermachen ließ, bis es ihnen zu langweilig wurde.

Mein Kopf war leer. Ich dachte nicht und erst recht hoffte ich nicht. Ich verdiente das was hier passierte. Sie werden schon eine guten Grund gehabt haben, mir auf diese Weise wehzutun. Ich musste etwas falsch gemacht haben. Ich musste mich falsch verhalten haben. Menschen konnten einfach nicht ohne Grund so gemein sein und andere Leute, wortwörtlich, mit Füßen treten, oder? Genau, ich war das Problem.

"Sie bewegt sich nicht mehr. Wenn sie sich nicht wehren, macht es keinen Spaß.", beschwerte sich ein Mädchen und legte ihren Fuß unbekümmert auf meinem Rücken ab, weil ich durch die ganzen Tritte schlussendlich auf dem Bauch lag und meine Augen sich nicht von Ayumi trennen konnten. Auch sie schaute mir tief in die Augen - fast so, als würde sie in meine Seele blicken und meine dunkelsten Geheimnisse lesen wollen.

"Verschwinden wir. Das kleine Miststück hat ihre Lektion hoffentlich gelernt.", sagte sie kalt, machte eine Handbewegung an ihre Handlanger, die mich, wie auf Kommando, in Ruhe ließen und sich, mit zügigen Schritten, von mir entfernten.

"Ich habe Hunger. Lasst uns was essen!", schlug eine von ihnen vor, während ich, fast bewusstlos, am Boden lag und am liebsten sterben wollte.

"Halt die Klappe!", zischte Ayumi sie an, während alle hinter einer Ecke verschwanden. Hier lag ich nun. Ich konnte mich nicht bewegen und jeder Atemzug tat mir weh.

Du musst nach Hause. Was ist wenn dich jemand findet? Glaubst du wirklich, dass dir jemand helfen würde?

Ich hatte keine Wahl und stütze mich mit aller Kraft, die mir noch blieb, hoch und ruhte mich auf meinen Knien aus um leicht durchzuatmen. Ich hielt mir, mit schmerzverzerrten Gesicht, an meine Brust und versuchte meine Atmung zu regulieren. Ich stützte mich an der Wand ab und, wie von Zauberhand, stand ich wieder auf meinen wackeligen zwei Beinen.

Ich nahm meinen Rucksack in eine Hand und beschützte ihn mit meinem Leben. Die Ironie war, dass ich fast vor meinem eigenen Haus verprügelt wurde, weswegen ich nur einige Meter durchhalten musste.

Atme. Atme. Atme.

Niemand war auf den Straßen unterwegs, was mich überraschte, aber vielleicht wollte mir, in diesem Zustand, niemand über den Weg laufen und, um ehrlich zu sein, konnte ich sie gut verstehen. Ich spürte trotzdem neugierige Blicke, die mir die alten Opas und Omas aus ihren Fenstern zuwarfen.

Sie dachten wohl, dass ich sie nicht sehen würde, doch sie verhielten sich so unglaublich auffällig - ich musste mir ein Lachen verkneifen, weil es mir zum einen sonst die Lunge zerfetzt hätte, und weil mir aus Hilflosigkeit nichts anderes mehr übrig geblieben war. Sie hatten mich oft in diesem Zustand nach Hause kommen sehen, doch niemand unternahm etwas. Sie starrten, redeten hinter meinem Rücken über mich, bekamen alles mit und rührten sich nicht. Niemand wollte mir beistehen.

Ich hatte viele Theorien, warum sie so handelten. Entweder hatten sie große Angst vor meinen Eltern, wollten alles auf sie abschieben und hofften, dass sie es schon geregelt hätten, oder sie wollten sich nicht einmischen.

Warum hat es niemand, in meinen siebzehn Jahren auf dieser Erde, nicht einmal versucht? War ich verflucht?

Ich riss mich zusammen, als ich auf meine Haustür zuging und den Schlüssel im passenden Loch umdrehte, die Tür öffnete und geschwind im Haus verschwand.

Ich zog mir am Eingang meine dreckigen Schuhe aus, legte meine Jacke ab und wollte nur unbeschadet in mein Zimmer kommen, doch da machte mir meine Mutter einen Strich durch die Rechnung.

"Wo soll es denn hingehen, junge Dame?", fragte sie mich, als sie überraschend aus der Küche kam und mich dabei erwischte, wie ich leise die Stufen nach oben in mein Zimmer erklimmen wollte. Ich hatte keine Kraft, um mich jetzt zu unterhalten, weswegen ich mit dem Finger nach oben deutete.

"Mach den Mund auf, wenn dir jemand eine Frage stellt. So haben wir dich nicht erzogen.", sagte sie und wurde mit jedem Wort wütender.

Lustig. Erziehung sieht für mich anders aus.

Ich beobachtete sie dabei, wie sie ganz offensichtlich meine blauen Flecke an meinen Armen und meine Kratzer an meinen Beinen, begutachtete - doch sie sagte nichts. Kein Ton. Ihr Blick wirkte desinteressiert.

Ich stand leicht gekrümmt vor ihr, da ich vor Schmerzen nicht gerade stehen konnte.

Sie wusste es. Ihr war es mehr als bewusst. Ihr war klar, was mir vor einigen Minuten passiert war. Wahrscheinlich war sie froh darüber, denn jetzt musste sie diese Aufgabe nicht auch noch übernehmen.

Sie rollte mit den Augen, als sie merkte, dass sie keine Antwort von mir bekam und verschwand daraufhin wieder wortlos in der Küche.

Wie konnte ich meiner eigenen Mutter nur so egal sein? Womit hatte ich das verdient? Ich wollte doch nichts anderes, als glücklich zu sein. Ich wollte wenigstens eine Person haben, die zu mir hielt und der es egal war, wie scheiße mein Ruf war. Ich brauchte jemanden zum reden und eine Schulter zum anlehnen. Ich fühlte mich genau jetzt so alleine und einsam, weswegen ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte und man meine Traurigkeit mit einem Regen vergleichen konnte, der nicht mehr aufzuhören schien. Nicht heute. Nicht morgen. Niemals.

Warum half mir niemand? Warum wollte niemand mein Freund sein?

Liar | Oikawa x OCWo Geschichten leben. Entdecke jetzt