Kapitel 3

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C a s s a n d r a

Inzwischen schrieb ich meinem Bruder fast täglich eine Nachricht, um sicherzugehen, dass es ihm gut ging. Auch wenn er mir fast jeden Tag dieselbe Antwort gab, beruhigte diese mich dennoch immer wieder, da er mir überhaupt schrieb. Wir hatten auch jede Woche telefoniert, wenn er dazu Zeit gefunden hatte und inzwischen hatte ich das Gefühl, dass wir eine stärkere Beziehung zueinander aufgebaut hatten, als wir sie damals als Kinder hatten. Täglich dachte ich an ihn, vermisste ihn und wollte für ihn da sein, doch ich hatte Angst ihn zu besuchen. Was wenn ich in einen Kampf geriet? Oder wenn er mich nicht dahaben wollte, weil es zu gefährlich war? Ich wollte nicht an den Kampf erinnert werden, an dem ich selbst beteiligt war. Die Narben auf meiner Brust erinnerten mich täglich daran, was ich durch die Welt da draußen in den Wäldern verloren hatte und was ich noch verlieren würde, wenn mein Bruder nicht auf sich achtete.

Mit einer anderen Schwester saß ich gerade im Pausenraum und aß meinen Taco, den wir bei dem Laden gegenüber bestellt hatten und atmete den köstlichen Geruch ein. Endlich hatte ich mal Zeit für eine Pause, da in der Notaufnahme gerade nicht so viel los war, wie sonst an einem Samstagnachmittag. In entspanntem Schweigen aßen wir beide unsere Gerichte und redeten über belanglose Themen. Nach der Pause lief ich gerade wieder in die Richtung der Rezeption, um zu fragen, ob meine Hilfe irgendwo benötigt wurde, als die Tür aufgestoßen wurde und ein Mann mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm durch den Eingang lief. „Ich brauche Hilfe", rief er und ich eilte auf die beiden zu. Schnell erfasste ich die große Bisswunde an ihrem kleinen Beinchen, die nicht aufhörte zu bluten. Ihre blonden Locken hingen ihr in das tränenüberströmte Gesicht und sie hörte nicht auf zu zittern. Ohne weitere Fragen zu stellen, nahm ich ihn mit in eines der Behandlungszimmer, in denen der Arzt schon auf uns wartete. Schnell und routiniert gab ich eine Zusammenfassung, während der Mann das Mädchen ablegte, und wir anfingen sie zu behandeln. Die kleine wirkte immer noch so verschreckt und ängstlich, dass ich sie am liebsten in meine Arme gezogen hätte.

„Sind Sie der Vater?" Der Mann schüttelte bei meiner Frage den Kopf und da nahm ich seine Kleidung wahr. Mit Laub und Dreck bedeckte Jagdkleidung. „Ich war mit ein paar Jägern unterwegs, als wir sahen, wie sie von einem riesigen Wolf angegriffen wurde. Einer hat sofort reagiert und ihn erschossen. Ich weiß nicht, wo sie herkommt oder wie sie heißt, ich habe sie nur so schnell es geht hergebracht. Sie sind das einzige Krankenhaus im Umfeld, also bin ich fast eine Stunde hergefahren." Aufgebracht fuhr er sich durch die Haare und ich legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter und versprach mich um die Kleine zu kümmern. Während der Arzt also ihre Wunde reinigte, machte sich in mir der Verdacht breit, dass sie nicht nur ein kleines Mädchen war, das von einem gewöhnlichen Wolf angegriffen wurde. Vorsichtig nahm ich ihre Hand und lächelte sie an.

„Hey Süße, verrätst du mir wie du heißt?" Mit meiner sanftesten Stimme sprach ich leise mit ihr, um sie nicht zu verschrecken. Sie nickte kaum merklich und sah mich immer noch ängstlich an. „Emily", nuschelte sie und ich lächelte sie weiterhin warm an. Leise sprach ich ihr Mut zu und erklärte ihr, was der Doktor mit ihrem Bein machte und fragte sie nach weiteren Verletzungen, wobei sie mir noch ein paar weitere Kratzer und blaue Flecken zeigte, die ich ebenfalls behandelte. Emily beobachtete uns mit großen Augen dabei, wie wir ihre Verletzungen verbanden und blieb weiterhin misstrauisch uns gegenüber.

Der Mann, der sie zu uns gebracht hatte, wartete draußen auf dem Flur. Sichtlich erleichtert schüttelte er mir die Hand, als ich ihm mitteilte, dass es ihr gut ging und sie sich von den Verletzungen erholen würde. Er fragte auch nach ihrem weiteren Verbleib, da wir ja keine Adresse hatten, doch ich versicherte ihm, dass wir ihre Eltern informieren würden, und damit gab er sich zufrieden. Sicherheitshalber gab er an der Rezeption noch seine Nummer ab, damit wir ihn anrufen konnte, wenn etwas sein sollte. Ich verabschiedete ihn und ging dann in das Zimmer auf der Kinderstation, dass wir Emily zugeteilt hatten. Ich wollte unbedingt mit ihr reden, um meinen Verdacht aus dem Weg zu räumen.

Vorsichtig schlüpfte ich in ihr Zimmer und sah wie die Kleine mich mit prüfenden Augen beobachtete. Mein sanftes Lächeln schien ihr Vertrauen zu erwecken, denn sie lächelte leicht zurück, aber ich sah auch die Trauer in ihren Augen. Ich fragte sie, ob ich mich zu ihr aufs Bett setzen dürfte, was sie leise bejahte. Ihr gegenüber nahm ich Platz und streckte ihr vorsichtig die Hand entgegen. Zu meiner Überraschung nahm sie nicht nur meine Hand, sondern krabbelte auf meinen Schoß. Mütterlich strich ich ihr durch die Locken und begann damit sie zu befragen. „Wo kommst du denn her und was hast du draußen im Wald gemacht?" Als hätte sie nur auf diese Frage gewartet begann sie vorsichtig zu erzählen.

„Mommy und ich wollten Daddy bei seiner Arbeit besuchen. Er ist ein ganz starker Krieger und beschützt uns alle." Ihre Augen funkelten, bei der Erwähnung ihres Vaters, doch dann hielt sie inne. „Ich darf darüber nicht reden", meinte sie pflichtbewusst und sah mich forschend an. Um ihr Vertrauen noch weiter zu gewinnen, zog ich den Schokoriegel aus meiner Kitteltasche und reichte ihn ihr, bevor ich zu einer gewagten Antwort ansetzte.

„Weißt du, mir kannst du alles erzählen, denn ich bin auch eine Genträgerin und mein Bruder ist ein ebenso starker Krieger wie dein Daddy." Mit angehaltenem Atem wartete ich auf ihre Reaktion. Je nachdem ob sie einer Werwolfs Familie angehörte, würde sie jetzt wissen was ich war. Sie runzelte die Stirn und ich war schon dabei einen Herzinfarkt zu bekommen, als sie lächelte und mich fragte, welchem Rudel ich angehören würde. Damit war meine Vermutung bestätigt und ich war wieder mal in die Welt des Übernatürlichen geraten, ohne es zu wollen.

„Ich gehöre keinem Rudel mehr an, aber mein Bruder ist ein Beta. Welchem Rudel gehörst du an und wie bist du hergekommen?" Emily schob sich den Rest ihres Riegels in den Mund und tauchte nun völlig in meinen Armen auf, nachdem sie wusste, dass ich bescheid wusste. „Als Mommy und ich an der Grenze waren, kamen ganz viele Wölfe und Daddy schrie, dass ich rennen sollte. Ich bin ganz lange gelaufen. Als ich nicht mehr konnte, habe ich mich versteckt, in einem Fuchsbau!" Ich war wirklich stolz, wie sie mit der Situation umging, doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck traurig. „Ich dachte Daddy würde mich holen, doch er kam nicht. Also bin ich wieder raus und weiter gelaufen und dann war da auch schon der Rough der mich ins Bein gebissen und weitergezogen hat. Plötzlich hörte ich einen Schuss und peng war der böse Wolf weg und ich konnte weiterlaufen. Dann war da auch schon der Mann und der hat mich dann hergebracht."

„Du bist wirklich eine ganz mutige Kämpferin, kleine Emily." Ich schloss sie mit Tränen in den Augen in meine Arme und hielt sie ganz fest. Sie schmiegte sich nur weiter in meine Arme und flüsterte mir zu, dass sie ihre Mommy vermisste. Ich konnte nur zu gut verstehen, wie sie sich fühlte. Schmerzlich wurde mir bewusst, dass ich sie selbst zurückbringen wollte. Ich würde diese kleine mutige Wölfin nicht alleine lassen und mich selbst um sie kümmern, dafür brauchte ich allerdings den Namen ihres Rudels und Alphas, damit ich meinen Bruder fragen konnte, wo ich sie hinbringen konnte. Das teilte ich auch meiner kleinen Kämpferin mit, die dann aufgeregt von ihrem Rudel zu erzählen begann.

„Wir haben einen superstarken Alpha. Er heißt Tyron und sein Beta heißt Ares. Unser Rudel heißt Oak River." Erschrocken schaute ich auf die kleine runter. Mir war nicht bewusst, dass das Rudel meines Bruders so nah an meinem zu Hause lag. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie aus seinem Rudel stammen könnte und schon spürte ich die Angst in mir hochkochen. Sie wurden wieder angegriffen und er hatte sich heute noch nicht gemeldet. Die eisigen Klauen der Sorge schnürten mir die Kehle zu und ich bekam kurz keine Luft mehr, bis ich Emilys engelsgleiche Stimme vernahm, die mich aus meiner Starre befreite.

„Weißt du, wo das ist? Kannst du mich hinbringen?" Lächelnd nickte ich und legte mir schonmal eine Geschichte zurecht, wie ich das dem Krankenhaus erklären sollte. Ich würde definitiv eine Weile Urlaub brauchen, denn ich wollte etwas Zeit bei meinem Bruder verbringen, das gestand ich mir trotz meiner Angst vor dem Rudel ein. Ich wollte für ihn da sein, Emily nach Hause bringen und helfen, das lag nun mal in meinen Genen und die hatte ich schon viel zu lange unterdrückt. Es war Zeit meine Angst zu überwinden.

„Ich bespreche alles und dann bringe ich dich nach Hause."

A Love stronger than DeathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt