T y r o n
Ich saß hinter dem großen Schreibtisch in meinem Büro und vergrub mich in Arbeit. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was passieren würde, wenn es Cassandra besser ging. Heute Morgen hatte ich kurz in ihr Zimmer geschaut, doch sie hatte noch tief und fest geschlafen. Einige Augenblicke lang hatte ich mir erlaubt sie einfach nur anzusehen, ihre weichen Gesichtszüge zu studieren und mir jede der winzigen Sommersprossen einzuprägen, die sich über ihre helle Haut verteilten. Ihre Haare hatten wieder wild auf dem Kissen verteilt gelegen und schienen mehr orange in dem schummrigen Licht der aufgehenden Sonne. Ihr kleiner, zierlicher Körper hatte sich unter der Decke zusammengerollt, so dass nur ihr Kopf hervorschaute. Sehnsüchtig hatte ich sie betrachtet, bevor ich mich in die Arbeit vertieft hatte.
Ares würde nach ihr sehen, sobald sie wach wurde und sie zum Doc begleiten, der sich die Wunde und den Verband noch einmal ansehen wollte. Alle meine Instinkte wollten mich davon überzeugen, dass ich dabei an ihrer Seite sein sollte, doch ich war mir sicher, dass sie das nicht gewollt hätte. Ihr Schweigen gestern hatte mir deutlich gemacht, dass sie mich nicht wollte.
Ich hatte jahrelang auf sie gewartet, uns ein Haus gebaut, mir eine Zukunft ausgemalt, eine Familie. Scheinbar würde keiner dieser Wünsche jemals in Erfüllung gehen. Mein Herz gehörte ihr schon vom ersten Augenblick an und alleine schon die Vorstellung einer anderen Frau in meinem Leben sorgte für Übelkeit. Ich würde mir niemand anderen suchen, für das Rudel wäre es natürlich besser eine Luna zu haben, doch ich wollte nur Cassie und wenn sie mich nicht wollte, würde ich es auch weiterhin alleine schaffen. Ich hätte von Anfang an damit rechnen müssen, dass meine Mate mich vielleicht nicht wollen würde. Schließlich hatten die meisten in meinem Alter schon die ersten Kinder und waren nicht wie ich noch Jungfrau. Bereuen tat ich es jedoch nicht mich in meiner Jugend nicht ausgelebt zu haben. Immer noch wollte ich diese Erfahrungen nur mit ihr machen.
Wie so oft in letzter Zeit fuhr ich mir durch die Haare und seufzte. Die Ellenbogen stütze ich auf die Tischplatte und hielt mir meinen pochenden Kopf. Ich war einfach am Ende mit den Kräften, sowohl körperlich als auch geistig. Ich hatte keine Ahnung wie ich weiter machen sollte mit meinem Leben, wenn sie mich verlassen hatte. Ich hatte keine Ahnung wie ich das überleben sollte. Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken. Jetzt erschreckte ich mich sogar schon vor einem Klopfen an meiner Tür, stellte ich frustriert fest und bat Milan, den ich an seinem Geruch schon erkannt hatte, herein.
„Guten Tag Alpha. Heute gab es noch keinen Angriff auf die Grenzen, doch ich bin nicht nur hier, um dir den Lagebericht zu liefern, sondern um ein Anliegen der Jungwölfe vorzutragen." Ich deutete auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch und Milan nahm Platz. Er schien nicht im mindesten nervös, eher ruhig und gefasst. Mir war schon klar, um was er mich bitten wollte und da er sich seiner Sache sehr bewusst schien, wartete ich gespannt auf seine Argumente.
„Also einige der Jungwölfe haben nach genauer Prüfung und zahlreichen Trainingseinheiten ein großes Potential gezeigt. Von den älteren Wölfen könnten sie nun einige Tipps bekommen, sich Fertigkeiten antrainieren und Tricks lernen. Meiner Ansicht nach ist es an der Zeit ihnen zu zeigen, dass wir sie als vollwertige Krieger anerkennen. Zudem benötigen wir ihre Unterstützung an den Grenzen, es kann nicht verkehrt sein etwas frischen Wind in die Reihen zu bekommen. Die Jüngeren könnten die Älteren entlasten." Er sprach in einem ruhigen, professionellen Ton. In diesem Moment war ich sein Alpha, nicht sein guter Freund. Ich verstand seine Argumente, er hatte sie überzeugend vorgetragen, doch trotzdem war ich mir nicht sicher, ob wir das Risiko eingehen sollten. Milan schien meine Bedenken zu verstehen und so tauschten wir uns noch eine weitere halbe Stunde über Vor- und Nachteile aus.
„Es gibt keinen besseren Zeitpunkt als jetzt. Sie sind sich der Gefahr und Risiken bewusst, werden also wachsam sein und ihre Aufgabe ernst nehmen Alpha." Damit hatte er wohl am meisten Recht, denn die allgegenwärtige Gefahr, die an den Grenzen und somit für das Rudel bestand, versetzte alle in Achtsamkeit. Also gab ich schließlich nach, wollte die Jungwölfe jedoch erst selbst bei ihren Patrouillen begleiten. Somit entwarfen wir schon mal Pläne für die nächsten Wochen, um die Kleinen nach und nach in ihre Aufgaben einzuführen. Nicht alle auf einmal und die stärksten zuerst.
Nach dem Gespräch blieb Milan noch kurz, um mich über den Zustand von Draco zu informieren, der sich in der Gesellschaft seiner kleinen Familie gut erholte. Zudem erkundigte er sich nach dem bevorstehenden Rudeltreffen, das übermorgen bei Raphael Demos stattfinden würde. Fast hatte ich es durch den ganzen Trubel und die Probleme mit Cassandra vergessen.
„Ich werde morgen früh schon abreisen. Ares hat währenddessen die Verantwortung. Dich wüsste ich gerne in der Nähe von Cassandra. Wir haben zwar gesehen, dass sie sich selbst gut verteidigen kann, aber sie sollte es nicht müssen. Sollte ihr was passieren, geschieht es unter deiner Verantwortung." Meine Stimme hatte einen drohenden Unterton, denn bei dem Gedanken das ihr was passieren würde und dabei auch noch mit einem anderen Mann alleine war, wollte mein Wolf ihn in Stücke reißen. In diesem Punkt musste ich meinem Gamma einfach vertrauen.
„Mach dir keinen Kopf, ich werde auf sie aufpassen. Natürlich aus sicherer Entfernung." Erleichtert nickte ich und damit verließ er mein Büro. Anschließend arbeitete ich noch etwas vor, damit Ares nicht so viel Papierkram zu erledigen haben würde, den er verabscheute. Kurz schaute er noch vorbei und erkundigte sich nach anstehenden Aufgaben, die er in meiner Abwesenheit übernehmen sollte und die wir kurz durchsprachen.
Als ich das Rudelhaus verließ war es draußen schon wieder dunkel und ich zu müde, um noch einen einzigen Moment länger zu arbeiten. Meine Tasche würde ich dann wohl morgen in aller Früh noch packen müssen, denn dazu fehlte mir jegliche Energie. Wie jeden Abend betrat ich mit leisen Schritten das Haus, immer darauf bedacht Cassandra nicht zu wecken. Meinen tiefsten Instinkten folgend ging ich zu ihrem Schlafzimmer und öffnete vorsichtig die Tür, auch das machte ich jeden Abend. Ihr beim Schlafen zuzusehen beruhigte mich und ließ mein Herz schneller schlagen. Selbst wenn sie es nicht darauf anlegte, war sie wunderschön und selbst schlafend wirkte alles an ihr so anziehend, dass ich mich am liebsten zu ihr legen würde. Ein Stich durchfuhr mich als ich an ihre vor Schreck geweiteten Augen gestern zurückdachte. Daran, dass sie keinen Mate wollte und vielleicht schon weg sein könnte, wenn ich zurückkam. Natürlich musste sie mich erst noch komplett ablehnen, aber die Sätze würden ihr sicher leicht von den schönen Lippen kommen. Ich beobachtete sie noch eine ganze Weile, vielleicht sogar noch einige Stunden, denn zum Schlafen blieb mir keine Zeit mehr. Erst in Anbruch der Morgenröte verließ ich ihr Zimmer und packte schnell das Nötigste zusammen. Nach einem letzten Blick auf ihre zarte Gestalt verließ ich das Haus mit meiner Tasche über der Schulter und stieg in meinen Wagen.
Mit jedem Meter, den ich zwischen mich und meine Mate brachte, schmerzte mein Herz immer mehr. Ich fühlte, wie es sich zusammenzog, sämtliche Energie meinem Körper entzog. Mein Wolf jaulte und kratzte an der Oberfläche, er wollte zurück zu ihr, doch ich blieb standhaft und fuhr immer weiter. Irgendwann fühlte ich keinen Schmerz mehr, aber auch alle anderen Gefühle schienen wie ausgestorben. Vielleicht hatte sie die Ablehnung gerade ausgesprochen und unser Band getrennt. Ich hatte es zwar nicht gehört, aber alles schien mir momentan möglich zu sein. Doch genau in dem Moment, in dem ich wieder an sie dachte, packte mich die Sehnsucht mit solcher Heftigkeit, dass ich auf einen Parkplatz fuhr und umdrehen wollte. Angestrengt presste ich die Fäuste auf die Augen und versuchte mich und meinen Wolf zu beruhigen. Es dauerte ungefähr 20 Minuten, bis ich meinen Weg zu Raphael fortsetzen konnte. Schon jetzt ahnte ich, dass jede Minute, jedes Gespräch mit den anderen Alphas die reinste Qual werden würde.
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A Love stronger than Death
WerewolfCassandra Downfield ist eine Genträgerin. Sie kann sich nicht verwandeln, trägt das Gen jedoch in sich und wächst in einem Rudel auf. Ihr Leben scheint genauso normal, wie das jedes anderen, doch dann verändert ein Angriff auf ihr Rudel ihr Leben gr...