KAPITEL EINS

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Heute

Ich stehe auf und strecke mich einmal kräftig. Ein neuer Tag. Ein Tag, der genauso wird wie die letzten 730 Tage. Ich schalte meine Musik an, trotte ins Badezimmer und stütze mich am Waschbecken ab, damit ich nicht umkippe. Ein Blick in den Spiegel kann mir meinen Tag auch nicht verbessern. Ich putze schnell meine Zähne, kämme meine blonden, langen Haare und wasche mein Gesicht. Meine Nägel müsste ich auch mal wieder lackieren, aber mir fehlt einfach die Motivation. Ich gehe in meine kleine Küche und schenke mir ein Glas Saft ein, der meinem Eisenmangel gegensteuern soll. Mit meinem Glas in der Hand gehe ich auf den Balkon und setze mich auf meine Hollywoodschaukel, die mir Emilio zu meinem 22. Geburtstag geschenkt hat. Wie gerne ich jetzt mit ihm hier sitzen würde. Ich vermisse ihn so sehr. Shira, meine kleine französische Bulldogge kommt auf den Balkon und springt auf meinen Schoß, was mir ein kleines Lächeln entlockt. Shira habe ich ein halbes Jahr nach Emilios Tod gekauft, damit ich mich nichtmehr ganz so einsam fühle. Ich fühle mich trotzdem einsam. Dass man sich so alleine fühlen kann, hätte ich mir niemals vorstellen können. Ich trinke den letzten Schluck und gehe dann wieder in die Wohnung. Ein Blick auf meine goldene Armbanduhr sagt, dass ich noch knapp eine halbe Stunde habe, bis ich zur Arbeit muss. Aus meinem kleinen begehbaren Kleiderschrank hole ich eine hellblaue Wide Leg Jeans und eine grüne Bluse, die ich mir schnell anziehe. Wie lange ich nichtmehr in den Spiegel geschaut habe und mir dachte, dass ich gut aussehe. Als Emilio noch gelebt hat, hat er mir immer gesagt wie gut ich aussah. Soll ich mich heute schminken? Nein, für wen denn auch? Ich lege mir nur noch eine goldene Kette, mit einem Herzanhänger an und gehe dann in den Flur. Schnell ziehe ich mir meine weißen Converse Platform Sneaker an, nehme mir eine schlichte, weiße Tasche mit und gehe aus dem Haus.

Dass ich bis jetzt noch keine Kündigung bekommen habe, ist wirklich ein Wunder. Ich glaube, ich habe seit dem ich als Mediengestalterin arbeite, noch nie einer meiner Kollegen oder meiner Chefin ein Lächeln geschenkt. Ich hasse meinen Beruf. Es ist eintönig, langweilig und deprimierend. Ich öffne die Tür meines Autos, steige ein und fahre los. Über ein Jahr nach Emilios Tod konnte ich kein Auto fahren und bis heute fahre ich bei keinem Anderen mit. Aber auch wenn ich alleine fahre, versuche ich immer langsam zu sein und mich an alle Verkehrsregeln zu halten. Ich habe einfach zu viel Angst. Ich höre, dass ich eine Nachricht auf mein Handy bekommen habe, kann aber gerade nicht schauen, weil ich mich auf die Straße konzentrieren muss. Das ist bestimmt Ilenia, meine beste Freundin. Außer sie habe ich nicht besonders viele Freunde oder Bekannte. Ich hätte gerne mehr, aber meine sozialen Ängste hindern mich. Ilenia kenne ich schon seit der Grundschule. Mittlerweile sind wir 25 und 26 und verstehen uns immernoch wie am ersten Tag. Ich bin froh sie zu haben. Sie hat mir durch die schwerste Zeit meines Lebens geholfen.

Ich komme vor dem großen Gebäude, in dem ich arbeite an und gehe auf den Eingang zu. Wenn ich diese Eingangstür schon sehe, würde ich am liebsten wieder umdrehen und gehen. Ich ziehe mein Handy aus meiner Tasche um die Nachricht zu lesen. Ja, es war Ilenia. »Wollen wir morgen in die Stadt gehen?« »Ja, sehr gerne.«, antworte ich schnell und schaue wieder nach vorne, wo ich genau in der Sekunde gegen jemanden stoße. Ich trete sofort zurück und schaue die Person an. Es ist ein Mann, der ungefähr in meinem Alter ist und eine Aktentasche in der Hand hält. „Tut mir leid.", sagen wir beide gleichzeitig. Er lacht kurz auf und dreht sich dann zur Seite, um mich vorbeizulassen. Der Tag beginnt ja schon super. Ich gehe die Treppen nach oben und gehe ohne jemanden zu grüßen in mein Büro.

Es ist endlich 17 Uhr, was bedeutet, dass ich endlich nach Hause kann. Mittlerweile bin ich an einem Punkt in meinem Leben angekommen, wo ich nicht gerne Zuhause und nicht gerne im Büro bin. Wo bin ich eigentlich gerne? Ich glaube ich bin gerne bei meiner besten Freundin. Das ist gut. Vor zwei Jahren hätte ich wahrscheinlich gesagt, dass ich am liebsten tot wäre und ich bin froh, dass ich das endlich hinter mir habe. Ich steige wieder in mein Auto und schalte meine Lieblingsmusik ein. Ich liebe es Musik zu hören, mein Autofenster unten zu haben und den Wind in meinen Haaren zu spüren. Könnte ich das Auto fahren genießen wäre es zwar noch besser, aber es ist trotzdem das schönste, was ich bis heute gemacht habe.

Ich schließe meine Haustür auf und trete hinein, sofort rennt Shira auf mich zu und freut sich. Wenn sie sich freut, freue ich mich auch. Erst jetzt merke ich, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. „Na Shira, was soll ich essen? Feldsalat?" Sie bellt, was für mich eindeutig nach einem „Ja" klingt. Also gehe ich in die Küche schneide mir Tomaten, Gurken und Fetakäse, wasche den Feldsalat und vermische alles mit einer fertigen Salatsoße. Ich könnte sie auch selber machen, aber ich habe keine Lust. Ich vermische alles hole mir eine Gabel und setze mich zusammen mit Shira auf den Balkon. Zwar sitze ich hier wirklich gerne, aber der Ausblick ist wirklich traurig. Ich schaue auf ein paar Hochhäuser und einen Park, auf dem nur ein paar Kinder spielen und ein paar Jugendliche auf Bänken sitzen. Shira läuft nervös im Kreis und schnüffelt am Boden. Oh man, ich habe ganz vergessen, dass ich noch Gassi gehen muss. „Ich esse noch zu Ende und danach gehen wir. Okay?" Auch wenn sie nicht antworten kann, werde ich niemals aufhören mit ihr zu sprechen.

Shira ist fertig gemacht, genau wie ich, auch wenn ich nur meine Schuhe angezogen habe, und wir gehen nach draußen. Eine kleine Runde durch den Park sollte reichen. Nichtmal Lust mit meinem Hund Gassi zu gehen habe ich. Bin ich eine schlechte Hunde Mama? Ich stecke meine Kopfhörer in die Ohren und schalte meinen liebsten Podcast ein. Wir laufen durch den Park und ich schaue mir die ganzen Leute an, die hier sitzen und ihr Leben genießen. Ich würde mein Leben auch gerne wieder komplett genießen können. Es ist nicht so, dass ich seit Emilios Tod nie mehr glücklich war. Ich war oft glücklich, aber mein Leben ist nicht mehr vollkommen. Shira bleibt stehen um zu pinkeln und ich sehe, dass ein Mann auf mich zukommt. Kenne ich ihn? Er nähert sich mir und bleibt dann ungefähr einen Meter von mir entfernt stehen. „Hey. Arbeitest du nicht bei Inception Büro?", fragt er freundlich. Ich nicke zögernd. „Woher weißt du das? Bist du ein Stalker?" Wieso habe ich das jetzt gesagt? Oh mein Gott! Er fängt sofort an zu lachen und schüttelt den Kopf. „Ich glaube du hast mich heute Morgen angerempelt." Ah, stimmt. „Oh." „Du hast einen echt süßen Hund." Ich schaue auf Shira und lächele. „Danke." Erst jetzt realisiere ich, dass ich gerade mit einem Mann rede. Wie lange ich das nichtmehr getan habe, ohne sofort ein schlechtes Gewissen Emilio gegenüber zu haben. Es hat gut getan, mal an mich zu denken. Das habe ich in den letzten Jahren viel zu wenig getan. Ob Emilio mich jetzt hasst? „Hättest du Lust mal etwas mit mir Essen zu gehen?", fragt er gespielt selbstsicher. Leicht zu durchschauen, wie er sich am Kopf krazt und auf den Boden schaut. Ich will es wirklich. Ich will jemanden treffen und meinen Kopf ausschalten. Aber ich kann nicht. Ich bin doch verlobt. Mit steigen Tränen auf, die ich sofort wegblinzele. Was antworte ich denn jetzt? Ich würde so gerne, aber ich kann nicht. „Ich bin nicht interessiert. Aber danke trotzdem.", antworte ich so schnell, dass ich Angst habe, dass er mich nicht verstanden hat. Shira schleife ich hinter mir her. Ich will einfach nur weg hier. Hoffentlich werde ich es nicht bereuen. Aber, wenn ich ehrlich bin weiß ich genau, dass ich es bereuen werde. Schlecht sah er auch nicht aus. So genau drauf geachtet habe ich aber nicht. Das einzige an das ich mich erinnere, sind die schwarzen Haare, die rasierten Seiten und seine Größe. Ungefähr einen Kopf größer war er als ich. Wieso denke ich überhaupt so viel darüber nach?

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