KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

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„Ayaz!", rufe ich verzweifelt ins Telefon, als er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich abnimmt. Er brummt nur fragend, was mich noch ein bisschen wütender macht. „Ich halte das nicht mehr aus. Meine tolle Kollegin, meinte mir heute meinen ersten Tag schon zur Hölle machen zu müssen." „Was ist passiert?" Er klingt schon viel wacher. „Sie geht an mir vorbei und lässt ganz ausversehen ihren Kaffee auf mich fallen. Meine Haare, meine Hose, Alles ist voller Kaffee!", brülle ich, weil ich so unfassbar sauer bin. „Wo bist du?" Ich verdrehe wegen dieser dummen Frage kurz die Augen. „Vor meiner Arbeit." „Okay, ich komme. Bleib dort." Obwohl er es nicht sehen kann, nicke ich und lege dann auf. Ich hatte wirklich ein bisschen Hoffnung, das ich nach dem Urlaub ein bisschen mehr Spaß an der Arbeit haben könnte, vergebens. Mittlerweile bin ich wirklich nicht mehr so schlimm. Ich bin nicht mehr den ganzen Tag schlecht gelaunt und ich grüße meine Kolleg*innen sogar freundlich. Gerade kommt mir der Gedanke, dass ich mir etwas zum essen kaufen könnte, in der schönen kleinen Bäckerei, aber so wie ich gerade aussehe, ist mir das definitiv zu peinlich.

Es dauert fast 15 Minuten, bis Ayaz' Wagen endlich vor mir hält. Er steigt sofort aus und kommt auf mich zu. „Hey, wie gehts dir?" Ich lasse mich von ihm umarmen, löse mich dann aber schnell wieder. „Lass uns einfach fahren." Mir tut es irgendwie leid, so patzig zu ihm zu sein, aber wem bringt es jetzt etwas, wenn ich ihm gute Laune vormache? Ich steige auf der Beifahrerseite ein und sehe, dass er mich verwirrt anschaut. Scheiße, ich hätte es fast vergessen. Etwas peinlich berührt steige ich wieder aus und nehme auf der Fahrerseite Platz. „Wo hin soll ich fahren?" „Ich arbeite gerade, aber wenn du möchtest, kann ich von Zuhause weitermachen und du kannst dich bei mir duschen." Ich stimme schulterzuckend zu, weil es mir gerade echt egal ist. „Hast du Hunger?" „Nicht wirklich." Das stimmt zwar nicht ganz, aber ich will einfach nur, dass er aufhört zu reden.

Ich parke das Auto vor seinem Haus und steige aus. Er merkt mir meine schlechte Laune an, das merke ich. Stumm laufen wir nebeneinander, stumm fahren wir mit dem Fahrstuhl und stumm gehen wir in die Wohnung. „Ich gehe in mein Büro. Handtücher sind im Badezimmer." Oh man, das ist das erste Mal, das zwischen uns so eine komische Stimmung ist. Etwas mehr angespannt als vorher laufe ich ins Badezimmer, schließe die Tür ab und setze mich dann auf die geschlossene Toilette. Dieser Mann tut alles für mich. Er hat mir aus der schlimmsten Zeit meines Lebens herausgeholfen und ist immer für mich da, selbst wenn ich ihn wegen solchen Kleinigkeiten wie heute brauche, unterbricht er seine Arbeit, um sich um mich zu kümmern und mein Dank dafür ist, dass ich ihn mit meiner schlechten Laune nerve? Ich fühle mich gerade echt schlecht und merke, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln. Schnell wische ich sie mir weg und versuche mich wieder zu sammeln. Ich dusche extra lange und seife mich zwei Mal mit Ayaz' Duschgel ein. Wenn ich jetzt nochmal darüber nachdenke, wird mir immer mehr klar, dass es nicht richtig war, meine Wut an Ayaz auszulassen. Schnell gehe ich aus der Dusche, trockne mich mit einem weißen Handtuch ab und setze mich, umhüllt vom Handtuch, wieder auf dem Klodeckel.

Wieder angezogen und beruhigt, verlasse ich das Badezimmer und versuche leise Schritte zu machen. Wieso ich das tue, weiß ich auch nicht. Ich muss nur ein paar Schritte gehen, bis ich mitten im Wohnzimmer stehe und einen Blick auf die Küche habe. Wenn ich jetzt noch geschätzte zehn Meter gehe, kann Ayaz mich von seinem Schreibtisch aus sehen. Ich tapse die wenigen Meter und schaue schüchtern zu ihm. Er sitzt an seinem Schreibtisch und schaut erst hoch, als ich schon fast vor ihm stehe. Leicht beschämt verdecke ich meine nur vom Bh bedeckten Brüste. „Hast du vielleicht etwas, das ich anziehen kann?" Sofort steht er lächelnd auf und zieht mich an sich. „Geht es dir besser?" Ich nicke etwas unsicher, lasse mich von ihm umarmen und auf die Wange küssen, ehe er mich in sein Schlafzimmer führt. Er zeigt auf seinen Kleiderschrank und setzt sich dann auf sein Bett. Nachdem ich einige Sekunden stumm dastehe fängt er an zu lachen. „Wieso bist du plötzlich so schüchtern?" „Bin ich nicht.", versuche ich ihn zu überzeugen und freude selbstsicherer nach der Kleiderschranktür. Ein übergroßes T-Shirt und eine Hose. Unterwäsche trage ich ja schon. „Gute Wahl." Ayaz steht auf, küsst mich im Vorbeigehen auf die Schläfe. Gute Wahl, äffe ich ihn nach, als er aus dem Raum gegangen ist. Ich bin froh, dass unsere Beziehung nicht mehr so angespannt ist. Schnell schlüpfe ich in seine Kleidung, welche ich in letzter Zeit wirklich oft getragen habe und setze mich dann nochmal auf sein Boxspringbett. Es war früher immer ein Traum von mir, die Kleidung meines Partners anzuziehen. Oh Gott, das klingt total blöd. Leider fand mein Ex-Verlobter das aber immer total kindisch. Wir sind doch keine Teenager und außerdem passen dir doch meine Sachen sowieso nicht. Ich kann seine Stimme immer noch hören, wenn ich an diese Sätze denke. Er hat das romantische an dieser Geste einfach nie verstanden, aber ich war zu blind vor „Liebe" um so einige negative Dinge an unserer Beziehung zu sehen.

„Hannah!", ruft mich Ayaz aus dem Büro. Rasch gehe ich zu ihm. „Ja?" „Ich habe den ganzen Vormittag gar nicht gearbeitet. Zumindest nicht so wie du denkst." Ich schaue ihn verwirrt an. Was soll das denn heißen? „Ich habe mir Gedanken gemacht über alles was du darüber gesagt hast, was du gerne arbeiten würdest und ich glaube, ich habe etwas für dich gefunden." Sofort muss ich grinsen. „Du könntest anderen Menschen helfen mit der Trauer umzugehen, nachdem sie einen geliebten Menschen verloren haben." Uff... Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob das das richtige für mich ist." „Lass mich weitersprechen. Avid hat einen Freund, der ein Bestattungsinstitut leitet und die hatten die Idee, ein Büro einzurichten, in dem Menschen Hilfe finden." „Das klingt toll, aber ich weiß nicht ob ich das kann und so ein Psychologie Studium dauert Jahre. Bin ich nicht schon zu alt dafür?" Er schüttelt lächelnd den Kopf und zieht mich ein wenig näher an seinen Schreibtischstuhl. „Du könntest eine sechsmonatige Ausbildung machen. Die Grundausbildung reicht und da du dich nur um ein Themengebiet, nämlich den Tod, kümmerst, brauchst du nicht mehr." Ich gehe auf ihn zu und setze mich auf seinen Schoß. „Ich würde es gerne versuchen, aber ich kann nichts versprechen. Keine Ahnung, ob ich schon bereit bin, Menschen zu helfen, obwohl ich bis vor zwei Monaten kaum mein Haus verlassen habe." „Ich bin mir sicher, du kannst das." Er küsst meine Wange, ich nehme aber sein Gesicht in die Hand und küsse seine weichen Lippen. Ich liebe dieses Gefühl. „Danke, dass du das für mich gemacht hast." „Bedank dich nicht.", er küsst mich wieder auf die Lippen. „Doch, das muss ich. Hast du jetzt extra nicht gearbeitet?" Er nickt, sieht aber nicht so aus, als würde es ihn stören. „Wenn du es dir wünschst, kündige ich sogar.", sagt er lachend. Ich verdrehe lächelnd die Augen. Dieser Mann ist einfach zu perfekt. „Übrigens stehen dir meine Klamotten ausgezeichnet." Statt zu antworten lege ich meinen Kopf an seine Brust. Das T-Shirt stört. Genervt zupfe ich am Stoff seines Shirts. „Soll ich es ausziehen?", fragt er lachend. „Ja." Ohne zu zögern zieht er es sich über den kopf und legt es auf dem Tisch ab. Jetzt kann ich entspannt meinen Kopf ablegen und spüre seine warme Hand. Ayaz streichelt über meinen Rücken und ich fühle wieder vollkommene Geborgenheit.

„Danke für Alles, Ayaz."

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