1. Lackschaden

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˗ˏˋ Grete ˎˊ˗

Die Zugtür öffnete sich mit einem Pling und ich hopste auf den Bahnsteig. Im morgendlichen Gedränge zwischen Aktentaschen und Blazern ließ ich mich zum Ausgang des Hauptbahnhofs treiben. Eine kühle Brise fuhr durch meine schulterlangen Haare und ich zog meine Strickjacke enger um mich, als ich Richtung Elisabethstraße lief. Formal war es bereits Sommer, aber das Wetter hatte den Sommeranfang noch nicht so recht akzeptiert.

Ich gähnte und rückte meine Brille zurecht. Zwischen einem schicken Bürogebäude und einer Parkanlage kam das Kunstmuseum in Sicht. Es war ein wunderschönes altes Gebäude aus beigem Sandstein. Vor dem Eingang thronten zwei steinerne Löwen, bereit, jeden Besucher, der ihnen nicht passte, zu verschlingen. Mich hatten sie bis jetzt verschont. Vielleicht auch, weil ich ihnen regelmäßig das Moos von den Schultern schrubbte.

Ich arbeitete hier im Museum jede Woche einen Tag lang als Hilfskraft. Damit konnte ich mich einigermaßen während meines Studiums über Wasser halten. Ich hielt an, als die Schuhsohle meiner uralten Vans begann, herunter zu schlappen. Ich schob sie unter das Panzertape, das ich daran befestigt hatte und drückte sie wieder fest. Wie gesagt, einigermaßen.

Ich öffnete einen Flügel der großen Eingangstür und schlüpfte in das schummrige Innere des Museums.

„Guten Morgen.", begrüßte ich den Portier. Dann durchquerte ich den Flur zu den Büros, bis ich bei der Werkstatt ankam.

„Morgen, Grete.", begrüßte mich die Restauratorin als ich eintrat.

„Hi, Ina.", lächelte ich zurück.

Gespannt blickte ich ihr über die Schulter. Sie restaurierte Kunstwerke, an denen die Jahre nicht spurlos vorbeigegangen waren. Mit einer Lupe im Auge und zwei kleinen Spateln in der Hand leistete sie Millimeterarbeit an einer verkrusteten Leinwand. Ich bewunderte ihre Arbeit, ich selbst war leider viel zu ungeschickt, als dass man mich mit einem Spatel in die Nähe eines Gemäldes lassen sollte.

„Willst du dir den Rembrandt ansehen?", fragte Ina.

Ich machte große Augen. Nächste Woche würde unsere Ausstellung ‚Meister des Barock' eröffnen. Ihr Herzstück bildete ein berühmtes Rembrandt- Original. Das Gemälde war von einem Kaliber, wie es in unserem Museum normalerweise nicht vorkam und eigentlich gehörte es einem privaten Sammler. Doch diese gerieten von Zeit zu Zeit in Geldnöte und begannen, ihre Besitztümer an Museen zu verleihen. Unser Museumsdirektor hatte ein Händchen für solche Fälle und landete ab und an einen großen Fang wie eben jenen Rembrandt.

„Es ist gestern Nacht geliefert worden.", schmunzelte Ina, als sie meinen aufgeregten Gesichtsausdruck sah, „Bis zur Ausstellung wird das Gemälde in einem Lagerraum aufbewahrt. Komm, ich zeige es dir."

Sie schnappte sich einen Schlüsselbund, der an einem Nagel an der Wand hing und marschierte vor. Mit klopfendem Herzen folgte ich ihr die Steintreppe hinunter in den Keller. Der Keller des Museums war ein düsteres Gewölbe, das nach Moder und kaltem Stein roch. Die Wände waren vollgestellt mit vergessenen und verstaubten Kunstobjekten. Sie hatten es nicht in die reguläre Ausstellung geschafft und warteten auf den großen Tag, an dem eine Sonderausstellung stattfand, in deren Thematik sie hineinpassten. Dann würde ich oder eine andere Hilfskraft geschickt werden, um sie vom Staub zu befreien und sie hübsch in einer Vitrine zu platzieren. 

Ina lief auf eine der Eisentüren zu, von denen einige in die Wände eingelassen waren. Hinter diesen Türen verbargen sich die wertvolleren Schätze. Gemälde im Schönheitsschlaf. In vollkommener Dunkelheit in perfekt temperierter und ausgewogen trockener Luft. Mit einem Quietschen öffnete die Tür. Eine schwache Glühbirne leuchtete auf, als Ina den Schalter betätigte. Ich schlupfte neben ihr in den Raum. Mein Kunstwissenschaftler- Herz schlug höher, als ich es sah. Direkt vor mir an der Wand hing es. Christus im Sturm auf dem See Genezareth von Rembrandt van Rijn. Es zeigte ein kleines Fischerboot, das in einen Sturm geraten war. Jesus befand sich auf dem Boot und um ihn 13 Fischer, die versuchten, das Schiff unter Kontrolle zu bekommen. Ich ließ die Bildkomposition eine Weile auf mich wirken. Mit dem Zeigefinger fuhr ich in der Luft die mächtigen Wellen nach, die das Schiff schüttelten. Dann fand ich den einen Mann, der sich am Tauwerk festhält und als einziger den Beobachter ansieht.

„Rembrandt.", murmelte ich.

„Ja, das ist vermutlich ein Selbstportrait des Malers.", stimmte mir Ina zu, „Komm, lass uns wieder gehen und das Gemälde noch etwas ruhen, bevor es den Menschenmassen präsentiert wird."

Nachdem ich zwei Schulklassen durch das Museum geführt hatte, bat mich Ina noch, ein paar Kisten für die Ausstellung aus ihrem Transporter zu holen.

Ich hielt meinen Museumsausweis an einen Sensor neben der Tür und der Seiteneingang öffnete sich mit einem Klick. Am Rand der Straße waren Parkplätze eingezeichnet, die wie immer voll geparkt waren. Ich erkannte Inas weißen Transporter und hievte die erste Kiste aus dem Kofferraum. Die ist sperriger als erwartet, dachte ich, als ich sie zwischen den parkenden Autos durchmanövrierte. Ich drehte mich erschrocken zur Seite, als ich fast mit der Kante gegen den Transporter gestoßen war. Ein unangenehm schleifendes Geräusch ertönte.

„Oh nein!", japste ich und kniff die Augen entgeistert zu. In meiner Hektik, nicht den Transporter zu erwischen, hatte ich mit der anderen Kante das Auto, das auf der anderen Seite parkte, erwischt.

Das war jetzt nicht wirklich passiert. Warum musste ich so ein Tollpatsch sein? Frustriert atmete ich aus. Widerwillig öffnete ich die Augen, um mir anzusehen, was ich angerichtet hatte. Auf dem glänzend schwarzen Lack des fremden Fahrzeugs prangte ein dicker weißer Kratzer. Unschön und unübersehbar. Ich stellte die Kiste ab und seufzte. Erst jetzt besah ich mir das andere Fahrzeug näher. Es sah nicht nur todschick und teuer aus, es war auch noch ein Oldtimer. Ein alter Porsche, oder so. Ich konnte die Marke nicht genau zuordnen. Aber in einen so gut erhaltenen Oldtimer waren sicher Unsummen geflossen. Hoffentlich würde die Versicherung das übernehmen, dachte ich verzweifelt.

Ich holte einen Notizzettel und einen Stift aus dem Büro. Kurz überlegte ich, dann schrieb ich: Der Kratzer in der Fahrertür tut mir sehr leid. Etwas Besseres fiel mir einfach nicht ein. Dann setzte ich meinen Namen und meine Handynummer darunter und klemmte den Zettel unter die Windschutzscheibe.

Mafia 101 - MatteoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt