"Ihr habt gerufen, Mutter?", gab ich die von mir erwartete Begrüßung von mir, nachdem ich das kleine Büro der Glaubensmutter betreten hatte.
Die Nachricht hatte mich nicht lange nachdem ich durch die Geheimgänge in mein Zimmer zurückgekehrt war erreicht. Ich hatte mir dennoch die Freiheit genommen, erst einmal aeelenruhig duschen zu gehen - immerhin waren meine Haare und meine Kleidung voller Staub gewesen und ich hatte keine Lust, mich mit lästigen Fragen diesbezüglich herumschlagen zu müssen.
Die Glaubensmutter schien die Verzögerung jedenfalls nicht sonderlich zu stören. Sie saß wie üblich hinter ihrem Schreibtisch, die Ellbogen auf der Tischplatte aufgestützt, die Fingerspitzen aneinander gelegt, das runzelige Gesicht nachdenklich.
Aufgrund der allgemeinen Größe des Klosters könnte man meinen, das persönliche Büro der obersten Instanz unseres Gebäudeflügels sei prächtig und wunderschön eingerichtet, voller Prunk und Reichtum - stattdessen handelte es sich um einen kleinen Raum, zwar größer als eine Besenkammer, aber im Vergleich zu den weitläufigen Hallen, die für Gebete, Feste, Zeremonien und anderweitige besondere Anlässe genutzt wurden, war das Büro dennoch klein und schlicht.
Ein Schreibtisch, ein Regal und eine Handvoll Stühle - mehr war in dem Raum nicht zu finden. Aber ich wusste immerhin, dass die anderen Türen, die mit dem Büro verbunden waren, zu einem Schlafzimmer, einer eigenen kleinen Küche und einem Badezimmer führten.
Trotzdem hatte ich noch nie erlebt, dass die Glaubensmutter ihre Küche jemals benutzt hatte - sie aß immer gemeinsam mit der gesamten Priesterschaft und den Novizen.
"Setz dich doch, Kind", erwiderte die Glaubensmutter ebenfalls formgemäß. Sie bezeichnete alle Bewohner des Klosters als ihre Kinder - unabhängig von deren tatsächlichem Alter. "Was siehst du?", deutete sie ausladend auf die drei Gegenstände vor sich und lehnte sich zurück, noch bevor ich es geschafft hatte, ihrer ersten Aufforderung nachzukommen.
Lächelnd senkte ich den Blick. Ich war solche Aufgaben gewöhnt - die Glaubensmutter bestellte mich seit jeher hin und wieder zu sich, um mir kleine Rätsel zu stellen und mir kleine Übungsaufgaben zu übertragen, die es dann zu lösen galt. Hin und wieder fragte sie sich mein Wissen ab - sowohl allgemeine Schriften, über die jede Novizin zu jeder Zeit im Bilde sein sollte, als auch spezifischere Aufzeichnungen, die ich mir im Laufe der Jahre angesehen hatte.
Es bot mir die seltene Gelegenheit mich mit jemandem über die Texte auszutauschen, die ich tagtäglich regelrecht verschlang - und es war eine ausgezeichnete Methode um zu verhindern, dass ich müßig wurde und mich gehen ließ.
Doch diesmal hielt ich überrascht inne und mein Lächeln verflog, als ich die heutige Aufgabe betrachtete.
Es waren eigentlich nur drei Gegenstände: Ein schlichter Silberring, ein strahlend weißes Gewand und eine versiegelte Schriftrolle - an und für sich also nichts allzu Besonderes - aber es war ihre Bedeutung, die mich stutzen ließ.
"Ich...", setzte ich zögernd an. "Ich sehe die grundlegende Ausrüstung die eine Novizin erhält, wenn sie sich zur Ceremonia Ascendia begibt - der Aufstiegszeremonie, bei der eine Novizin offiziell zu einer Priesterin ernannt wird."
Eine Zeremonie, von der ich seit jeher träume.
Eine Zeremonie, an der ich seit jeher nie teilnehmen durfte - weil ich noch kein einziges Mal, nicht einmal für eine Sekunde, auch nur einen einzigen Fuß außerhalb des Klosters gesetzt hatte.
Dabei wollte ich - so oft.
Die Neugier trieb mich an, und da ich keinerlei Erinnerungen an meine Kindheit besaß konnte ich mir abgesehen von den vagen Erzählungen und Schwärmereien der anderen kein wirkliches Bild von der Außenwelt machen. Dementsprechend hatte ich auch noch kein einziges Mal mit jemandem von draußen gesprochen, wie ich die Menschen außerhalb des Klosters heimlich getauft hatte.
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Fantasy~NaNoWriMo 2022~ Mein offiziell allererster und vollkommen öffentlicher Versuch, das Event des NaNoWriMo zu bestehen. Für mehr Infos einfach einen Blick in das Vorwort-Kapitel werfen. Amaelya ist ein Mädchen ohne jede Kindheit. Ihre Erinnerung begin...