FÜNFUNDZWANZIG

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Schwärze, Schwärze, schwarzer Nebel...

Und dann stehe ich in einem Raum mit einem riesigen Tisch, der so gut wie das gesamte Zimmer einnimmt. Vor ihm sitzt eine junge Frau, gefesselt, geknebelt, ihre Augen mit einem Stofftuch verbunden. An ihrem Mund klebt trockenes Blut. Vor dem Stuhl steht ein junger Mann mit schwarzem Haar, das er zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden trägt, und goldbrauner Haut, die im schummrigen Kerzenlicht einen olivfarbenen Ton angenommen hat. Ich kenne ihn.

Dann bin da ich: ich trage ein kurzes, weißes Kleid, ganz schlicht, es ist nur mit einem weißen Tuch in der Taille festgebunden. Es ist dennoch wunderschön und seidenweich.

Am anderen Ende des Tisches sitzt eine Gestalt, Teller mit reichen Speisen, Besteck und Serviette vor sich. Der Kelch ist mit einer farblos schimmernden Flüssigkeit gefüllt. Ich kann nicht viel erkennen, denn dichter, schwarzer Nebel schlingt sich um die Gestalt und schirmt sie von meinem Blick ab. Nur eins sehe ich: blutrote Augen, leuchtend und lodernd in der Finsternis.

Die rotbraunen Augen des jungen Mannes sind zu schmalen Schlitzen verkniffen, während er die wehrlose Frau anstarrt, die Hände in seinen Hosentaschen sind zu Fäusten geballt. Er ächzt und keucht, er schneidet Grimassen und blinzelt hektisch.

"Nein!", keucht eine Stimme neben mir plötzlich. Da steht ein kleines Mädchen, sie trägt dasselbe Kleid wie ich, ihre Haare leuchten mondweiß und ihre Augen bestehen aus strahlendem, weißen Licht - beides steht in starkem Kontrast zu ihrer dunkel gebräunten Haut. Ihre Gestalt flimmert an den Rändern, als wäre sie kein fester Bestandteil der Szenerie, kaum mehr als ein vager Geist.

Langsam verschwimmt das Gesicht der gefesselten jungen Frau, es löst sich wie eine Maske, und ich weiß, das ist ihre Seele, die ihr ausgesaugt wird, denn so ernähren sie sich, so ernährt er sich. Das Prozedere ist mir vertraut, ich habe es schon einmal gesehen, aber alles geschieht sehr viel langsamer als in meiner Erinnerung, und es scheint dem jungen Mann auch keine Freude zu bereiten, im Gegenteil, sein Gesicht ist verkniffen als hätte er Schmerzen.

"Ja, weiter so!", echot die Stimme am anderen Ende des Tisches, aber es klingt weniger nach einer Ermunterung denn nach einem Befehl. "Und nun sprich! Was siehst du?"

"Wehr dich!", fleht das geisterhafte Mädchen. "Wehr dich gegen ihn, verrate ihm nichts! Ich weiß, du bist besser als das, ich weiß, das ist gar nicht das, was du willst!" Ihre Worte verhallen ungehört und sie schluchzt, eine Hand auf ihr Herz gepresst.

Der junge Mann öffnet und schließt mechanisch die Hände, sein Atem geht stoßweise, aber er verschlingt die Seele vor sich nicht, er starrt sie nur an. "Sie... Sie war in der Wüste unterwegs. Tagelang."

"Nein!", keucht das Kind erneut mit erstickter Stimme.

"Wer ist sie?"

"Eine... Eine Priesterin. Aus dem Kloster hier in der Gegend. Sie hat an der Ceremonia Ascendia teilgenommen..." Jedes Wort klingt nach einem Kampf, Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn.

Stumm bewegt das Mädchen den Mund, als würde sie die zwei Worte in ihr Gedächnis brennen wollen, als würde sie sie auskosten wollen. Offenbar hat sie aufgehört, etwas ändern zu wollen, und stattdessen beschlossen so viele Informationen aus dem Geschehnis zu ziehen, wie sie kann. Auch wenn ihr Gesichtsausdruck pure Qual widerspiegelt.

"Was wollte sie hier?"

Der junge Mann beißt sich auf die Unterlippe. "Sie hatte ein gebrochenes Bein... weil sie von einem Kamel gefallen ist. Sie wollte hier Zuflucht suchen... sie haben abgestimmt... sie sind weitergezogen, aber sie konnte den Schmerz nicht mehr aushalten, sie wollte Vorräte suchen..."

"Wer sind sie?"

"Eine Gruppe von Novizinnen, drei Stück... nein halt, es sind vier, aber eine von ihnen...", beginnt er und verstummt dann plötzlich.

Auch das Kind erstarrt verblüfft.

Die Schattengestalt lehnt sich vor. "Was hast du?", fragt die Person misstrauisch.

"Die Vierte ist... eigenartig. Sie entzieht sich meinen Blicken, sie ist... abgeschirmt...", erklärt er und ringt nach Worten. "Beschützt... Nein, das ist es auch nicht, sie..."

Jetzt steht dem Kind der Mund offen und sie senkt den Blick auf ihre über dem Herzen geballte Faust.

Die Schattengestalt haut mit der Faust auf den Tisch. "Unterbrich die Verbindung! Sofort!", bellt sie.

Die Seele der jungen Frau gleitet langsam wieder zurück an ihren Platz, mal ruckartig ein ganzes Stück, mal qualvoll langsam nur winzige Bisschen.

"Du warst das, nicht wahr? Du oder eines deiner Geschwister...", murmelt das Kind ihrer geschlossenen Faust zu.

"Sie könnten uns orten...", spricht die Schattengestalt, aber ich drifte bereits wieder fort, ich höre nichts weiter, der schwarze Nebel verschlingt mich und schiebt mich rückwärts zurück ins dunkle Nichts...

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