VIERZEHN

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Ich hörte kaum zu welche Lügen die Hohepriesterin noch aus der Schriftrolle las, so sehr befand ich mich in innerem Aufruhr. Es ging um fleißige Gebete, einen unerschütterlichen Geist und bedingungslosen Glauben ohne jeden Zweifel, so viel bekam ich noch mit.

Dabei hatte ich das Beten zu Beginn verabscheut. Stundenlang auf dem Boden knien, die Augen schließen und nichts tun - es war mir unmöglich erschienen, auch nur eine einzige Sekunde still zu halten. Aufgrund meiner Zweifel und meines mangelnden Interesses hatte ich mich nie konzentrieren können, hatte alles hinterfragt und bei allem mehrfach nachgehakt.

Mit "fleißigen Gebeten, einem unerschütterlichen Geist und bedingungslosem Glauben ohne jeden Zweifel" hatte das alles rein gar nichts zu tun - im Gegenteil, die Realität könnte nicht weiter entfernt liegen.

Mir brach der Schweiß aus. Die versiegelte Schrift an die Hohepriesterin im Rahmen der Ceremonia Ascendia galt als unanzweifelbar. Niemand log darin. Zwar gab es keine offizielle Regel, kein wirkliches Gesetz, aber es war eine unausgesprochene Übereinkunft. Es war eine Sache der Ehre, des Stolzes und der Tugend.

Und die Glaubensmutter hatte sie gebrochen - meinetwegen. Mittlerweile war ich mir recht sicher, dass es keine Verwechslung sein konnte. Wer sonst hieß Amaelya - einfach nur Amaelya, hallte die Stimme der Hohepriesterin von zuvor in meinem Kopf wider.

Kein Familienname. Kein Zweitname. Kein Titel. (Aber das war nicht verwunderlich. Niemand von Rang würde sich in einem Kaff wie diesem niederlassen.)

Aber wieso log die Glaubensmutter nur in Bezug auf meine Hintergrundgeschichte? Wieso hatte sie keinen Familiennamen für mich erfunden? Wenn das Ziel gewesen wäre, es leichter für mich zu machen, dann hätte sie das doch bestimmt getan? Oder ging es ums Prinzip? Wollte sie damit etwas beweisen?

Ich ballte die Hände zu Fäusten, als sich meine Übelkeit hochschraubte. Ich musste runter von diesem Ding. Ich musste weg - ich musste raus hier. Ich brauchte frische Luft - was ironisch war, denn ich befand mich bereits draußen, und egal wohin man ging, die Luft war von Sand begleitet.

Trotzdem - wenn ich nicht gleich wegkäme, dann würde ich mich übergeben. Hier, vor aller Augen. Mein Blick flog panisch über die teilnahmslosen Gesichter. Ich fühlte mich unendlich alleine.

Meine Brust zog sich zusammen, meine Lunge schmerzte - als verweigere selbst die Luft, mir noch länger beizustehen. Schwarze Punkte erschienen in meinem Sichtfeld, ich blinzelte sie panisch weg, aber es brachte nichts. Ich merkte kaum, wie mein Körper zu zittern begann. Ich merkte kaum, wie die Hohepriesterin neben mir fortfuhr, als wäre nichts geschehen.

Bemerkte sie denn nichts? Bemerkte denn niemand, dass es mir nicht gut ging? Achtete niemand auf mich, obwohl sie mich doch alle anstarrten?

Mein Blick blieb an einer verhüllten Gestalt hängen. Durch die Entfernung und die tief hinunter gezogene Kapuze konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie stach zweifellos aus der Masse heraus, in ihrer dunklen, schlichten Kluft, die ihren gesamten Körper vollständig bedeckte. Sie legte den Kopf schief und hob den Arm. Sie bewegte ihre Finger als würde sie mit Fäden spielen, aber ich konnte nicht verstehen, was sie damit bezwecken wollte.

Dann ging ein Ruck durch mein Innerstes.

Die Luft kehrte zu mir zurück, die Punkte verschwanden nach und nach - ich konnte wieder atmen. Wärme strahlte durch meinen Körper, beruhigende Wärme. Es fühlte sich an wie ein strahlendes Licht in einem Meer aus Dunkelheit und Verzweiflung, Schmerz und Furcht.

Ich lockerte die Hände, sog die Luft tief ein. Ein - und aus. Ein - und aus. Die Übelkeit sickerte in Wellen aus mir hinaus, mein Schwindelgefühl legte sich wieder. Ein - und aus. Immer wieder.

Geräuschvoll stieß ich die angehaltene Luft aus, als sich mein Zustand wieder stabilisiert hatte. Ein Schritt nach dem anderen, ermahnte ich mich. Nichts überstürzen.

"...uns dein silbernes Band, das dich auf deinem Weg hierhin begleitet hat!", erscholl die Stimme der Hohepriesterin.

Ich war schön. Ich war stark. Ich war nicht allein. Für diese eine Nacht durfte ich jemand anderes sein - jemand anderes als ich.

Also lächelte ich, hob die Hand mit dem Silberring triumphierend und streckte stolz die Brust vor. Applaus erscholl, Jubelrufe wurden laut.

"Amaelya, gelobst du, den Göttern ewige unverbrüchliche Treue zu schwören, bis dass der Tod dich vor ihr Antlitz führen werde?"

"Ich gelobe es", erwiderte ich mit fester Stimme. Dieses Licht in mir - es gab mir Halt. Es stützte mich. Ich zweifelte nicht einmal eine einzige Sekunde.

"Gelobst du, dein Leben dem Studium und der Preisung der Götter und ihrer Taten zu verschreiben? Bis auf den letzten Tropfen Blut, der in deinem Körper verweilt?"

"Ich gelobe es." Noch immer lächelte ich. Irgendwie konnte ich nicht aufhören. Ich fühlte mich so leicht. War das göttlicher Beistand oder wurde ich schlichtweg verrückt?

"Gelobst du, das Reich der Götter, sowohl im Diesseits als auch im Jenseits, auf ewig zu respektieren, dich ihnen zu ergeben und dich ihrem Urteil bedingungslos zu unterwerfen? Egal was geschieht?"

Ich setzte bereits zu einer Erwiderung an, stockte dann jedoch. Das war nicht die formgemäße Formulierung des Gelübdes. Und grinste die Hohepriesterin nicht verschlagen? Flackerte ihr Erscheinungsbild nicht am Rande meines Sichtfelds zu einer gierigen, verzerrten Fratze mit roten Augen?

Mein Blick ging suchend durch die Reihen, doch die verhüllte Gestalt war verschwunden. Das Licht in meinem Inneren jedoch blieb - und bei den Worten, die meine Ohren erreichten, flackerte und stockte es, als wäre es genauso überrumpelt wie ich.

Plötzlich wurde mein Lächeln breiter. "Ich gelobe, der Göttin Societas auf ewig verbunden zu sein. Ich gelobe, dem Gott Sanatio auf ewig behilflich zu sein. Ich gelobe, allen Göttern, die rechtschaffen und tugendhaft sind, auf ewig treu zu sein. In diesem Leben und in allen weiteren."

Die Worte rieselten wie ein Nebelschleier auf mich herab und perlten mühelos von meiner Zunge. Sie waren einfach so am Rande meines Bewusstseins aufgetaucht, als hätte sie mir jemand vor langer Zeit vor geflüstert. Jemand, mit warmen Frauenhänden und sanfter Stimme, jemand, in dessen Nähe ich mich sicher und geborgen gefühlt hatte.

Ich sah, wie die Fratze hinter dem Gesicht der Hohepriesterin die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff. Ich sah, wie die roten Augen aufloderten, wie sie mich vollkommen zu durchbohren schienen. Es fühlte sich an, als würden die Augen bis auf den Grund meiner Seele blicken - doch was auch immer sie suchten, sie würden es nicht finden.

Der Gedanke überraschte mich selbst. Dennoch war ich mir ohne jeden Zweifel sicher, dass es nichts in mir zu finden gab, außer dem, was ich bereits preisgegeben hatte.

Da die Hohepriesterin - oder das Wesen, das sie war, denn hundertprozentig menschlich konnte sie nicht sein - zu beschäftigt damit schien mich anzustarren, ergriff ich das Abschlusswort. "Ich gelobe, den Weg der Priesterin voller Demut, Vertrauen und Hoffnung ab dem ersten Schein der Sonne anzutreten. Ich gelobe, meine Seele mit dem Aufstieg des hellsten Sterns aszendieren zu lassen, und ich gelobe, dieses Band aus Silber fortan voller Stolz im Herzen zu tragen."

Ich legte eine Kunstpause ein, in der ich die Gestalt neben mir beobachtete. Sie hatte sich noch immer nicht geregt, als bekäme sie gar nicht mit, was gerade geschah. "Dies alles gelobe ich, so wahr mein Blut mich leite!"

Wieder brachen Applaus und Jubelrufe aus, und mit einem letzten, triumphierenden Grinsen machte ich mich an den Abstieg von dem Podest.

Die gesamte Zeit über spürte ich den brennenden Blick der Hohepriesterin auf mir ruhen, doch sobald ich in der Menge untergetaucht war, schien sie sich wieder zu fassen und rief den nächsten Namen auf.

Kaum trat ich hinter die letzte Reihe der Zuschauer, verschwand das Licht aus meinem Inneren - erloschen wie eine Kerzenflamme.

Alle eben noch so übermäßig empfundene Freude, jeder Übermut und Stolz und alles Selbstbewusstsein fielen von mir ab. Ich fühlte mich schwach, wehrlos und unendlich müde. Alles kehrte zurück: Übelkeit, Schwindelgefühl, Atemnot. Ich war ein zitterndes Elend, das kurzerhand in sich zusammenbrach, wie ein Stein zu Boden fiel und sich in einen Topf in der Nähe erbrach. Wieder und wieder und wieder.

Bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.

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