SECHS

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"Ja Mutter, ich erinnere mich an jede einzelne Etappe", bekräftigte ich noch einmal.

Die Glaubensmutter strich zitternd über meine Hände. "Das ist gut." Sie schluckte schwer und schloss seufzend die Augen. "Vergib mir, Kind. Es fällt mir wirklich schwer, dich nach all den Jahren gehen zu lassen", verzog sie entschuldigend das Gesicht.

"Es ist ja nicht für immer", entgegnete ich lächelnd, auch wenn in meinen Augen ebenfalls Tränen standen. "Ich werde definitiv zurückkehren, sobald ich eine offizielle Priesterin geworden bin."

Zwar stand es jedem nach der Abschlusszeremonie offen, wohin man reisen wollte um dort den Rest seines Lebens zu verbringen - doch stand es für mich unabweichlich fest, dass ich hierhin zurückkehren würde. Immerhin war dies hier mein Zuhause, und die Glaubensmutter alles was mir geblieben war.

"Das ist schön zu hören", antwortete die Glaubensmutter, ihr Tonfall klang jedoch nach dem genauen Gegenteil. "Aber Kind - triff deine eigene Entscheidung. Lass dich nicht von mir beeinflussen - du hast erst so wenig von der Welt gesehen." Sie drückte meine Hände noch einmal und beugte sich vor, um mich fest in ihre Arme zu schließen.

Ich erwiderte ihre Umarmungen genauso fest und blinzelte die Tränen in meinen Augen hektisch fort. Ich hatte plötzlich einen schmerzhaften Kloß im Hals. Ich hatte seit meiner Kindheit nicht eine einzige Umarmung mehr erhalten. Nicht mehr seit die Glaubensmutter von der protestierenden Priesterschaft gezwungen worden war, mich genauso zu behandeln wie jede andere Novizin auch.

"Und eins noch: Wenn du in Scintilla bist und am Fest der Wollust teilnimmst", flüsterte sie mir mit belegter Stimme ins Ohr, "dann lass dich nicht auf jeden dahergelaufenen Strolch ein. Lass sie sich ruhig die Köpfe einschlagen - deine Schönheit sollte gewürdigt werden, und ein jeder von ihnen sollte den Göttern auf Knien danken, auch nur einen einzigen Blick von dir geschenkt bekommen zu haben."

Ich lachte leise, aber es klang wegen dem Kloß in meinem Hals eher wie ein Krächzen.

Seufzend löste sich die Glaubensmutter von mir und schob mich auf Armeslänge zurück. Plötzlich wich der feuchte Glanz ihrer Augen einem stahlharten Ausdruck. "Wenn du dich an irgendetwas aus deiner verlorenen Kindheit erinnern solltest, Amaelya", murmelte sie leise mit fester Stimme, "dann klammere dich daran fest. Die Vergangenheit ist unendlich wertvoll - und dass dir ein Großteil davon fehlt, ist äußerst gefährlich."

"Und", fügte sie zögerlich hinzu, "wohin auch immer dich dein Weg führen mag, was auch immer geschehen sollte - vergiss nie, was du in diesem Kloster gelernt hast."

"Warum sagst du so etwas?", fragte ich mit zitternder Stimme nach. Mir war bisher noch nicht einmal im Traum eingefallen, nach meinen verlorenen Erinnerungen zu suchen - geschweige denn, den Schatten der Vergangenheit nachzurennen. Ich war mehr als zufrieden mit meinem derzeitigen Leben, auch wenn ich durchaus neugierig war. "Ich werde wiederkommen, Mutter", versprach ich noch einmal. "Wir werden uns in wenigen Wochen wiedersehen und dann wird alles wieder so, wie es immer gewesen war."

Sie lächelte traurig und schloss die Augen. "Pass auf dich auf, Kind", meinte sie dann nur und ging anschließend zu der nächsten Novizin.

Ich war mehr als verwirrt. Die Worte der Glaubensmutter klangen ganz so, als würde sie damit rechnen, mich nie wieder zu sehen. Dabei war das absurd - das hier war doch mein Zuhause!

Als mir von einer Priesterin bedeutet wurde, mich so wie die anderen auf den Rücken eines Kamels zu hocken, fühlte ich mich immer noch wie benommen. Die Worte der Glaubensmutter hatten eine Art Nebel in meinem Kopf zurückgelassen, der mich kaum einen klaren Gedanken fassen ließ.

Nur am Rande nahm ich war, wie sich die Prozession dann irgendwann in Bewegung setzte - an der Spitze ritt eine erfahrenere Priesterin, die alle anderen in einer langen Reihe anführte. Ich blickte zum Kloster zurück und behielt es im Auge so lange ich konnte.

Die Sonne kroch immer höher und es dauerte nicht lange, da war mein Mund staubtrocken und meine Augen tränten von dem trockenen Wind und all dem fliegenden Sand. Die grüne, üppige Pracht der Oase, an der das Kloster erbaut worden war, wich recht zügig einer unendlichen, goldenen Weite, auf der sich das Licht der Sonne spiegelte.

Die Luft flimmerte vor Hitze und ich war nun doch unendlich froh den Schal tragen zu können - ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, wie viel unangenehmer es sein würde, wenn der umher wirbelnde Sand sich in Mund und Nase absetzen würde.

Anfangs war ich noch fasziniert von der neuen Aussicht des unendlichen Sandmeeres, und wie der Wind die Oberfläche veränderte wenn er mit geisterhaften Fingern darüberstrich - aber je lauter das Wimmern und Stöhnen der Novizinnen vor und hinter mir wurde, je mehr sich mein blondes Haar vor Schweiß kräuselte und je mehr meine Kleidung pitschnass an mir klebte, desto gereizter wurde ich.

Trotz Schal und Kapuze fanden einige Sandkörner ihren Weg in meine Ohren, Mund und Nase, und es nervte mich, dass ich keine Möglichkeit hatte sie zu entfernen, ohne dass direkt ein ganzer Schwall neuer Körner eindrang.

Es nervte mich, dass meine Augen nicht aufhören konnten zu tränen, und es nervte mich, dass wir unendlich langsam auf unseren Kamelen vorankrochen. Es nervte mich, dass die Zeit um Schneckentempo zu vergehen schien, und es nervte mich, dass mich die Abschiedsworte der Glaubensmutter nicht loslassen wollten.

Vor allem aber nervte es mich, dass ich genervt war.

Ich war zum ersten Mal draußen - zum ersten mal außerhalb der Mauern des Klosters - und würde in nur einer Woche bereits in Scintilla sein und an der Ceremonia Ascendia teilnehmen dürfen.

Mein jahrelanger Traum würde sich endlich erfüllen, und dann wäre ich auf schnellstem Wege wieder zuhause bei der Glaubensmutter und könnte weiter mein Dasein fristen und würde durch meinen neu erlangen Priesterinnen Status Zugang zu ganz neuen Bereichen der Bibliothek erhalten.

Ich würde unzählige neue Schriften lesen dürfen, und ich wäre den Putzplan der Novizen endlich los.

Ich würde mit den anderen Priesterinnen endlich gleichgestellt sein, die immerzu auf mich hinabgeblickt hatten, und ich würde möglicherweise endlich ein paar Freundinnen unter ihnen finden können, sobald sie erst einmal gemerkt hätten, dass ich ihnen ebenbürtig war und gar keine Sonderbehandlung bekam, wie sie immer dachten.

Nur ein paar Wochen trennten mich von alledem.

Trotzdem fühlte sich allein schon dieser erste Tag an, wie eine halbe Ewigkeit. Bei dem Gedanken daran, das noch sechs weitere Tage erdulden zu müssen, sank meine Laune auf einen Nullpunkt.

Ich konnte nur hoffen, dass es mit der Zeit leichter werden würde.

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