Lächelnd kniete ich vor der großen, elfenbeinfarbenen Statue, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. Alle meine Sinne waren ungewöhnlich geschärft.
Ich genoss die Wärme dieses Ortes, die Ruhe, den Frieden, die Möglichkeit, alle Sorgen und Ängste loszulassen, und sei es auch nur für ein paar wenige Stunden.
Eine warme Brise strich an mir vorbei und trug den Duft von Blumen und Gewürzen an meine Nase. Mein langes, wallendes Gewand raschelte leise im Wind, und das Geräusch vermischte sich mit den Tönen der säuselnden Ähren und der singenden Vögel. Die Sonnenstrahlen auf meinem Haupt erfüllten mich mit Wärme und fühlten sich an wie eine leitende Hand, die auf meiner Schulter lag und mich stützte. Mir Halt gab.
Ich atmete geräuschvoll aus und ließ zu, dass sich mein Körper entspannte. Meine Sinne kehrten zu ihrer ursprünglichen Fassung zurück, und all das, was ich eben noch so intensiv gespürt hatte, verblasste in meinem Kopf zu einer unwichtigen Nebeninformation. Ich verharrte noch einige wenige Sekunden in meiner Haltung und genoss die Ruhe, die bis in mein Innerstes hineingesickert war, ehe ich meine Augen wieder öffnete.
Lächelnd blickte ich auf meine gefalteten Hände und meine knienden Beine hinab. Früher hatte mein Körper lange vor dem Ende der Gebetszeremonie angefangen zu zittern. Früher war ich nach läppischen zwei Minuten zusammengebrochen, weil mein Körper verkrampft war und meine Muskeln schwach. Mit der Zeit hatte ich immer weiter trainiert, immer weiter geübt und gebetet, und jetzt schaffte ich es länger als die eine Zeremonie auszuharren. Möglicherweise schaffte ich sogar zwei oder drei, bevor mein Körper wieder schwach wurde.
Ich atmete tief durch und hob den Blick zu der Statue an. Ihr wallendes Gewand floss wie Wasser um ihren Körper und verbarg trotz seiner Weite nichts von dem betörend weiblichen Körper der Göttin, und ihre lockigen Haare umschmeichelten ein ebenso verlockend schönes Gesicht mit seiner schmalen Form, der Stupsnase und den leicht schräg stehenden Augen.
Das Abbild von Societas, der Göttin der Bande, der Bindung und der Begegnungen, zeigte sie in einer hoheitlichen Pose mit gestrafften Schultern, gehobenem Kinn und zum Boden ausgestreckten Armen. Obwohl die Statue einheitlich in Elfenbeinfarben gehalten war, sah ich die Gestalt der Göttin vor meinen Augen in all ihren prächtigen Farben, entnommen aus all den Aufzeichnungen über die längst verstorbene Sterbliche, die durch ihre noblen Taten in den Ring der Götter aufgenommen worden war.
Das Haar ebenholzschwarz, die Haut von einem olivfarbenen Teint, die Augen blitzten grün, das Gewand von einem strahlenden Rot. Eine wunderschöne Frau, die Könige in die Knie hätte zwingen können, eine Frau, die die Götter höchstselbst hätte betören können, eine Frau, der sich ein ganzes Volk ergeben auf die Knie hätte sinken lassen. Jungfrau. Priesterin. Vestalin. Richterin. Kriegerin. Göttin.
Societas hatte sich von den armen Straßen der Elendsviertel stetig hochgekämpft, bis sie an ihrem Ziel angekommen war: Die Macht zu besitzen, diejenigen zu schützen, die sie liebte. Über diejenigen wachen zu können, die sie bewunderte. Diejenigen zu erretten, die sie verehrte.
Ich hatte alle Schriften über sie studiert, hatte jede Geschichte mindestens dreimal gehört und sie mindestens fünfzehnmal analysiert, so lange, dass ich sie Wort für Wort wiedergeben könnte wenn ich wollte, hatte jedes Artefakt betrachtet bis mir schwindelig geworden war und ihre Abbilder so lange betrachtet bis die Bilder vor meinem Auge verschwommen waren.
Ergeben senkte ich den Kopf vor der Statue und legte meine Hände in die nach oben gerichteten Handflächen der Statue. Die Oberfläche war warm - obwohl das Abbild aus leblosem Stein bestand - und die Fläche abgeschliffen von all den Händen, die ihre Gebetszeremonien zuvor mit dieser Geste beendet hatten.
Ein letzter, tiefer Atemzug, dann senkte ich meine Arme und ließ meinen Körper auf meine Fußballen zurück wippen. Meine Beine kribbelten, weil ich sie so lange in die kniende Haltung gezwungen hatte, aber mein Körper fühlte sich leicht und beschwingt an. Kraftvoll.
Ein lauter Glockenschlag ließ mich erschrocken zusammenfahren und ich sprang schnell auf die Füße, während ich die Laute zählte.
Sieben. Sieben Glockenschläge, sieben Laute - sieben Uhr. Ich biss mir verwirrt auf die Unterlippe. Eine Gebetszeremonie dauerte für gewöhnlich ungefähr dreißig Minuten. Ich hatte mich gegen vier Uhr von den Kellergewölben der Bibliothek auf den Weg zu den Gebetshallen gemacht - das dauerte etwa fünfzehn Minuten. Das bedeutete...
Ich hatte ungefähr zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten hier gekniet und meinen Geist treiben lassen. Das waren etwa viereinhalb Gebetszeremonien - ich hatte viereinhalb Gebetszeremonien abgehalten und mein Körper kribbelte lediglich leicht.
Stockend atmete ich aus und wischte meine feuchten Hände an meinem langen Novizengewand ab. Mein Mund kräuselte sich zu einem schmalen Lächeln, als ich realisierte, was das bedeutete: Ich hatte länger ausgeharrt und gebetet als sonst eine Novizin oder Priesterin vor mir. Nicht, dass es irgendjemand außer mir wertschätzen würde - die anderen hassten mich regelrecht und missgönnten mir jeden Erfolg. Aber es war ein Erfolg, den ich im Stillen feierte. Und als mir der nächste Gedanke kam, musste ich tatsächlich lachen: ich hatte dadurch das Abendessen verpasst.
Der Laut blieb mir schnell im Hals stecken, als mein Magen anfing zu knurren und mein Blick durch den kleinen, halboffenen Gebetsflur schweifte. Seufzend streckte ich mich und versuchte das Gefühl der Beklemmung um mein Herz zu verdrängen.
Für gewöhnlich befanden sich in jedem Gebetsgang vier Novizen, die leise und ohne einander allzu große Beachtung zu schenken ihre Gebetszeremonie abhielten. So war es zumindest gewesen, bevor vor einem Jahr ein Feuer ausgebrochen und etwa ein Viertel der Novizen davon dahingerafft worden war. Sie hatten sich in einem Flur nicht weit von dem hier aufgehalten, als sie einer anderen Novizin helfen wollten.
Der Aufbau der Flure war eigentlich überall gleich: Ein mit Stein ausgekleideter Gang, der an beiden Seitenwänden auf ein Gartenstück hinauslief, an dessen anderer Seite der nächste Flur angrenzte. An der Stirnseite eines jeden Flures befand sich eine Statue der Göttin Societas, die vor einer Steinwand stand. So waren die Flure kreisförmig um die Mitte des Gartens angeordnet, wo sich ein riesiger Springbrunnen mit Fontänen befand, die stets um eine gigantische Statue der Göttin der Bande kreisten.
So sah es zumindest im Flügel der Göttin Societas aus - der andere Flügel des Klosters war der Göttin Solus gewidmet, der tristen Schwester von Societas. Denn Solus war die Göttin der Einsamkeit, der Öde und der Verlassenheit, und auch sie besaß eine eigene Anhängerschar, bestehend aus einer eigenen Gemeinde mit eigenen Novizen und eigenen Priestern, sowie einer eigenen Glaubensmutter.
Ich war noch keinem einzigen Anhänger von Solus persönlich begegnet, obwohl beide Gemeinden mehr oder weniger unter einem Dach schliefen - im selben Kloster. Dementsprechend hatte ich kein wirkliches Bild davon, wie es dort aussah oder was dort getan wurde - oder inwiefern sich diese Gemeinde von meiner unterschied. Der Zugang zu ihrem Flügel war uns strikt verboten, und das galt umgekehrt genauso.
Doch genug nachgedacht - mein Magen knurrte und machte mich mit einem nagenden Ziehen darauf aufmerksam, dass ich mich beeilen musste, wenn ich heute noch etwas zu essen bekommen wollte. Nach einem letzten Blick auf die Statue von Societas kehrte ich ihr den Rücken zu und begab mich ins Innere des Klosters.

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VIRGO
Fantasy~NaNoWriMo 2022~ Mein offiziell allererster und vollkommen öffentlicher Versuch, das Event des NaNoWriMo zu bestehen. Für mehr Infos einfach einen Blick in das Vorwort-Kapitel werfen. Amaelya ist ein Mädchen ohne jede Kindheit. Ihre Erinnerung begin...