EINUNDZWANZIG

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Rot glühende Augen verfolgten mich.

Um mich herum befand sich nichts als Finsternis, schwarzer Nebel waberte und versperrte mir die Sicht auf meine Umgebung.

Ich rannte und rannte und rannte, doch es war, als käme ich kaum von der Stelle. Meine Beine waren so kurz, zu kurz, und hinter mir leuchteten die roten Augen, und wenn sie mich erreichen würden, dann würden sie mich fressen...

Schreie hallten in der Dunkelheit um mich herum nach, flehten, bettelten, weinten, klagten, sangen und bebten...

Und sie alle riefen meinen Namen. Sie alle riefen mich zu sich, baten mich um Hilfe, schrien sich die Seele aus dem Leib, beteten, dass ich sie erretten möge, denn ich allein war in ihren Augen dazu fähig, dabei wussten sie gar nichts über mich, sie kannten nur die Lügen, die die Erwachsenen ihnen erzählt hatten, sie wussten nichts über mich und meine Macht, sie wussten nicht, dass alles eine einzige, große Fassade war, alles nur eine einzige Lüge, denn ich war nicht die, für die sie mich hielten, ich war nur ein einfaches Mädchen, was sollte ich schon ausrichten können gegen sie, gegen diese Wesen, gegen diese Ungeheuer, gegen diese Bestien...

Ich rannte und rannte und rannte, doch es nützte nichts, früher oder später würde mich der Mann mit den rot leuchtenden Augen einholen, und dann würde er mich fressen, er würde seine Monster auf mich hetzen und sie würden mich aussaugen, sie würden mir alles nehmen, all die Freude, all die Hoffnung, alles was gut und rechtschaffen war, und sie würden keine Gnade mit mir haben, sie würden nicht aufhören bis ich es ihnen verraten würde, bis ich alle verraten würde, die mir lieb und teuer waren, bis von mir nichts mehr übrig wäre...

Und selbst wenn ich es weg schaffen sollte, dann würden sie mich jagen, mich verfolgen, ich hätte nie wieder einen Moment Ruhe, ich würde sie an jeder Ecke befürchten müssen, ich würde sie überall sehen, selbst wenn sie nicht da wären, denn sie waren erbarmungslos, und sie würden keine Ruhe geben, bis sie ihre Beute nicht gefangen hätten, besonders wenn der grausame Mann sie weiterhin so bestrafen und foltern würde, weil sie mich noch nicht eingefangen haben, weil ich ihnen nun schon einige Male entwicht bin, weil ich alles habe und weiß, das sie begehren...

Schwer atmend fuhr ich im Bett hoch und presste meine Hand gegen mein Herz. Es raste so schnell, als wäre ich gerade um mein Leben gerannt. Nur ein Traum, beruhigte ich mich. Nur ein Albtraum. Auch wenn er sich so real angefühlt hatte, auch wenn ich noch immer die Schreie in meinen Ohren klingen hörte, auch wenn ich noch immer rot glühende Augen hinter mir zu sehen meinte...

Ich atmete tief durch und sah mich um. Es war alles in Ordnung. Ich befand mich im Gasthaus. Ich lag auf meinem Deckenstapel, und neben mir lag eine zierliche Gestalt.

Richtig. Mina. Wir hatten beide etwas Schlimmes in dieser Nacht erlebt, und wir waren beide nicht bereit, darüber zu reden. Aber weil wir beide Angst hatten und nicht alleine sein wollten, hatten wir beschlossen nebeneinander zu schlafen.

Das Gefühl, nicht allein in der kleinen Kammer zu sein, beruhigte mich tatsächlich. Ich erinnerte mich nur noch verschwommen daran, dass wir uns gegenseitig dabei geholfen hatten, unsere Gesichter abzuwaschen, und dass wir beide unsere verdreckten, zerrissenen, mit diesen angsteinflößenden Erinnerungen verbundenen Kleider draußen auf der Straße in Brand gesteckt hatten, weil wir ihren Anblick nicht länger ertragen konnten.

Seufzend fuhr ich mir über das Gesicht. Das Kleid war zwar wunderschön gewesen, und dass ich es umsonst geschenkt bekommen hatte war für mich nach wie vor ein kleines Wunder an und für sich, aber es war nicht nur so gewesen, dass es kaputt gewesen war. Nein, ich hatte es außerdem mit Erbrochenem beschmutzt und mich irgendwann im Laufe der Schreckensnacht eingenässt, weswegen es derart erbärmlich gestunken hatte, dass es keinerlei Rettung für den Fetzen Stoff gegeben hatte.

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