ZWÖLF

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Der maskierte Fremde vor mir räusperte sich. "Es tut mir leid, dass Ihr das überhaupt mitbekommen musstet", sagte er mit zerknirschtem Gesichtsausdruck, "Er war schon immer ein Idiot, aber ich dachte nicht, dass er so tief sinken würde. Ich und meine Kameraden hätten ihn besser im Auge behalten müssen."

Er schien sich ernsthaft schuldig zu fühlen - dabei hatte er doch nichts verbrochen. Vielleicht mochte der andere Kerl sich früher schon auffällig verhalten haben - aber das machte den maskierten Fremden vor mir doch noch lange nicht zu seinem persönlichen Kindermädchen, das andauernd hinter ihm her putzen musste!

Genau so sagte ich es ihm auch, und der Anflug eines erleichterten Lächelns huschte über sein Gesicht. Für einige Sekunden starrten wir einander einfach stumm an, bis er sich wieder räusperte und den Blickkontakt unterbrach. "Eine schöne Dame wie Ihr sollte nicht alleine durch die Gegend streunern", meinte er schließlich. "Wo sind Eure Freundinnen? Ich geleite Euch zu ihnen."

"Oh, ich...", setzte ich an und stockte. "Ich bin nur... mit einer Bekannten gekommen." Mina und ich hatten uns erst heute etwas näher kennengelernt. Sie bereits jetzt als Freundin zu bezeichnen, erschien mir nicht richtig. Zumal ich sie aller Voraussicht nach nie wieder sehen würde, wenn die Ceremonia Ascendia erst einmal abgeschlossen wäre. "Ich habe keine Freundinnen", schloss ich.

Verblüfft blinzelte er mich an. "Nicht? Ich dachte... Ihr wirkt auf mich... Also, ich meine...", stotterte er vor sich hin. Er seufzte leise und schloss kurzzeitig die Augen.

Er schien sich Sorgen um mich zu machen. Irgendwie - immerhin waren wir uns vollkommen fremd. Wie ironisch, dass er mich in einer Nacht wie dieser in Sicherheit zu wissen wollen schien - einer Nacht, die darauf ausgelegt war, dass man sich selbst vergaß und sich voll und ganz der fleischlichen Lust hingab.

"Seid Ihr zufällig eine Novizin?", fragte er dann unverblümt aus dem Nichts.

Perplex nickte ich. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie er nun wieder auf die Frage kam. "Und Ihr?"

Er grinste leicht. "Ja, ich bin ein Novize." Er biss sich auf die Lippen und trat von einem Bein aufs andere. "Ihr wirkt nicht gerade... begierig auf das rege Treiben der Nacht. Wie kommt das?"

"Es ist alles noch ziemlich neu für mich", gab ich zu.

Sein Gesicht hellte sich kaum merklich auf. "Ja, das verstehe ich. Mir geht es genauso."

Wieder schwiegen wir und er wippte unruhig von einem Bein aufs andere. "Also", fing er an und zog den letzten Buchstaben fragend in die Länge, doch ich würde nie erfahren, was er mir hatte sagen wollen.

Denn genau in dem Moment ertönte ein lauter Ton...

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