Ich biss mir auf die Unterlippen und zupfte zum vermutlich hundertsten Mal an meinem Gewand herum. Ich war es nicht gewohnt so viele Lagen Stoff zu tragen - und schon gar nicht dieses kratzige Material.
Im Inneren des Klosters bestand das übliche Outfit aus einem wallenden, lockeren Kleid, welches mit ein paar geübten Handgriffen so geschnürt wurde, dass es an den richtigen Stellen saß.
Das hier dagegen...
Ich trug Hosen. Das war die erste ungewohnte Umstellung. Ich hatte noch nie Hosen getragen. Sie saßen unangenehm eng und lagen an wie eine zweite Haut. Ich fühlte mich irgendwie nackt darin.
Dann war da noch das Achselhemd, über dem ich ein mehrlagiges Oberteil mit unzähligen Knöpfen, Schnüren und Taschen trug - und eine Kapuze samt Umhang, der umständlich hinter mir herwallte und mir das Gefühl gab, mich konstant auszubremsen.
Und dann war da noch das unangenehmste - ein dicker dunkelroter Schal, den ich über Mund und Nase tragen musste. Ich hatte das Gefühl darunter zu ersticken, weil ich nicht genug Luft einatmen konnte - aber als ich diese Bedenken gegenüber der Glaubensmutter geäußert hatte, hatte sie nur gelacht.
Dazu kam, dass ich zwar erst seit wenigen Minuten außerhalb der kühlen Mauern des Klosters aufhielt, aber dennoch jetzt schon schweißüberströmt war. Wenn es jetzt schon so schlimm war - wie schrecklich würde es dann erst werden, wenn die Sonne über den Himmel wanderte? Noch befand sich der Tag in den frühen Morgenstunden.
Leise seufzte ich. Die Reise nach Scintilla beanspruchte eine ganze Woche - ich würde mich also wohl oder übel mit den Umständen arrangieren müssen.
Und ich war ja wenigstens nicht die einzige, die litt - auch wenn die anderen die Temperaturen und die Kleidung bereits gewohnter zu sein schienen als ich, die sich zum ersten Mal draußen befand - das hielt die anderen aber nicht davon ab, sich dennoch lautstark zu beschweren.
Die Glaubensmutter schritt durch das Eingangstor des Klosters und ihr dunkelblaues Gewand wallte wie eine aufgebauschte Wolke hinter ihr her. Ich unterdrückte ein erneutes Seufzen - was hätte ich darum gegeben, mich jetzt auch in solchen luftigen Gewändern befinden zu können!
Sie ging von einer Novizin zur nächsten und unterhielt sich mit jeder leise für ein paar Minuten - sowohl ein Abschiedsgruß als auch eine formale Angelegenheit. Immerhin waren dies Mädchen, die so wie ich auf dem Weg nach Scintilla waren, um an der Ceremonia Ascendia teilzunehmen.
Als die Glaubensmutter schließlich bei mir angekommen war, ergriff sie meine Hände und drückte sie zuversichtlich. "Amaelya, Kind", begann sie mit einem traurigen Lächeln und ich fürchtete kurz, sie würde mir mein Unbehagen ansehen und sich doch noch dafür entscheiden, mich nicht gehen zu lassen.
Das war für mich ein Weckruf. Genug rumgejammert - ich war auf dem Weg nach draußen, in die weite Welt! Gut, nur in die nächstgelegene Stadt - aber dennoch! Ich richtete mich auf und hob das Kinn. "Danke für alles, Mutter", lächelte ich entschieden.
Sie blinzelte und schwieg für einen Augenblick, dann atmete sie geräuschvoll aus. "Aber natürlich, Kind. Mögen die Götter über dich wachen auf deiner Reise. Du erinnerst dich noch an den Ablauf?", hakte sie nach.
Eifrig nickte ich. "Ich habe ihn in den letzten beiden Tagen eingehend studiert", erwiderte ich. Das war eine Untertreibung - ich hatte ihn Wort für Wort, Buchstabe für Bichstabe, bis ins kleinste Detail auswendig gelernt und war alle Aufzeichnungen von früheren Novizinnen durchgegangen.
Von der Prozession nach Scintilla über die Zeremonie bei Anbruch der Nacht des ersten vollständigen Aufenthaltstages, von den auf die nächsten Wochen verteilten Prüfungen über das Fest der Wollust, bis hin zur darauffolgenden Abschlusszeremonie bei Tagesanbruch.
Der erste Test war die Reise nach Scintilla - das erste Hindernis, das es zu bewältigen galt. Dann waren da die Aufgaben, die sich in Scintilla selbst ergaben - eine Erkundungstour bei der man Unterschriften sammeln musste, eine Woche bei der man pro Tag in mindestens sieben Geschäften aushelfen musste, eine Liste bei der man sich anderen Bürgern und Novizen vorstellen musste, und was sich die Hohepriesterin sonst noch ausdenken mochte.
Jedes Jahr waren es neue Aufgaben - was genau auf mich zukommen würde war also ein Geheimnis, auf das ich mich jedoch so gut es ging vorbereitet hatte.
Nach Abschluss aller Prüfungen fand das Fest der Wollust statt - es war die einzige Nacht, in der es angehenden Priesterinnen gestattet war, das Bett mit anderen Männern zu teilen. Auf wie viele man sich einließ und was genau man mit ihnen anfing lag allein in den eigenen Händen.
Die einzige Regel war, dass alles davon in beidseitigem Einverständnis geschehen musste.
Schändete eine Priesterin einen Mann, wurde ihr unverzüglich jeder Anspruch auf die Tätigkeit entzogen und sie wurde aus dem Kreis ihrer Gemeinschaft verstoßen - verbannt bis aufs Lebenszeit, und diese Schande würde sie auf ewig begleiten, egal in welche Stadt sie floh, egal welche andere Arbeit sie zu verrichten versuchen würde. Es war ein Makel, der einen bis in alle Ewigkeit verfolgen würde.
Schändete ein Mann hingegen eine Priesterin, fiel er dem Zorn der Götter zum Opfer und wurde aus der Gesellschaft verstoßen. Er wurde für vogelfrei erklärt, wodurch ihn jeder - ohne die Konsequenzen fürchten zu müssen - töten durfte. Ebenfalls eine Angelegenheit, die einen nie wieder in Ruhe lassen würde.
Ich war noch keinem einzigen Mann begegnet - oder wenn, dann nur im Rahmen meiner Kindheit, an die ich jegliche Erinnerung verloren hatte -, aber das hielt mich nicht davon ab von der großen, wahren Liebe zu träumen.
Und es hinderte mich nicht daran, meine wilden Fantasien ausleben zu wollen.
Nach dem Fest der Wollust - das die ganze Nacht andauern würde - käme bei Anbruch des ersten Tageslichts die Abschlusszeremonie, in der jede Novizin offiziell zu einer Priesterin ernannt wurde.
Das schlichte Silberband an meinem Zeigefinger blitzte im Sonnenlicht wie ein wachsames Auge. Schriftrolle, weißes Gewand, Silberring - das waren die drei Gegenstände, die jede Novizin im Rahmen der Ceremonia Ascendia erhielt. Die Schriftrolle enthielt Informationen, die einzig und allein für die Hohepriesterin von Scintilla bestimmt waren, das weiße Gewand stellte unsere bisherige Unschuld und Reinheit dar - dieses Arbeitskleid würden wir während der Prüfungen tragen - und der Ring war ein eisernes Band, das uns mit unseren Glaubensgeschwistern auf der gesamten Welt symbolisch verbinden würde. Ein Zeichen dafür, dass wir nicht allein waren.
Das ganze Prozedere nannte man nicht umsonst die "Zeremonie des Aufstiegs" - jedes Mädchen würde ihr Novizen Dasein am Abend ablegen um für wenige Stunden vollkommen gewöhnlich und frei zu sein, und dann anschließend mit dem Anbruch des neuen Tages ihr Priesterinnen Gelübde abzulegen, das sie lebenslang an das Leben in einem Kloster oder einem Tempel binden würde.
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VIRGO
Fantasy~NaNoWriMo 2022~ Mein offiziell allererster und vollkommen öffentlicher Versuch, das Event des NaNoWriMo zu bestehen. Für mehr Infos einfach einen Blick in das Vorwort-Kapitel werfen. Amaelya ist ein Mädchen ohne jede Kindheit. Ihre Erinnerung begin...