SIEBENUNDZWANZIG

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Wieder stehe ich in meinem weißen Kleid abseits und beobachte eine Szene vor mir.

Der Gedanke lässt mich stocken. Wieder? Ist das schon einmal geschehen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Unwillkürlich blicke ich zur Seite und als ich dort niemanden sehe, regt sich ein Stich in meinem Herzen. Warum auch immer - mein eigenes Verhalten, meine eigenen Gedanken verwirren mich.

Ich stehe in einem Zimmer, eine kleine Kerze brennt und wirft flackernde Schatten an die Wände. Eine krumme Gestalt in wallenden, hellen Gewändern sitzt vor einem Schreibtisch, das Geräusch einer über Papier kratzenden Feder erfüllt den Raum. Ein Blick nach draußen zeigt den dunklen Himmel, verhüllt von dunklen Wolken. Das ist nicht weiter ungewöhnlich - hier in der Wüste regnet es zwar nur ein bis zweimal pro Jahr, aber das Kloster liegt nah genug an der Grenze zum fruchtbaren Teil des Landes, sodass Wolken ein Phänomen sind, das hin und wieder eben auftritt. Trotzdem löst der Anblick irgendetwas in mir aus.

Plötzlich werden die Fenster von einem starken Windstoß aufgerissen, die Kerze wird ausgepustet, die Vorhänge fliegen hoch, und als sie sich wieder senken steht da eine vage vertraute, verhüllte Gestalt in einem langen Mantel inmitten des Raumes und starrt den Rücken der gebeugten Gestalt wortlos an. Diese wiederum lässt sich alle Zeit der Welt, als sie die Feder ablegt, die Arme streckt, den Rücken dehnt und sich schließlich erhebt. Betont langsam dreht sie sich um und überrascht starre ich in ihr Gesicht.

Es ist die Glaubensmutter! Sie sieht noch genauso aus wie ich sie in Erinnerung habe. Hilflos mache ich einen Schritt vorwärts, zwinge mich dann jedoch, inne zu halten. Keiner der beiden schaut zu mir - es ist als wäre ich gar nicht da.

Was ist das hier? Eine Erinnerung? Aber nein, ich scheine gar nicht anwesend gewesen zu sein. Ist es die Gegenwart? Aber nein, alles ist ruhig und draußen ist alles noch aufgeräumt und ordentlich. Friedlich. Also handelt es sich entweder um die Vergangenheit - oder um die Zukunft.

"Es ist eine ganze Weile her, dass Ihr mich mit deinem Besuch beehrt habt", meint die Glaubensmutter gelassen. "Um genau zu sein haben wir uns nicht mehr gesehen, seit Ihr mich damals im Traum heimgesucht habt, oder?" Jetzt schleicht sich doch ein Funke Angst in ihre Augen.

Die verhüllte Gestalt zieht sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. "Allerdings", bestätigt sie leise und neigt den Kopf. Der weite Mantel, bedeckt mit eigenartigen Runen und Zeichen, verschleiert die Körperbau der Person darunter völlig, doch ihrer Stimme ist zu entnehmen, dass es sich bei ihr um eine Frau handelt.

Nachdenklich schweift der Blick der Glaubensmutter zum Fenster und auf die Szenerie dort draußen. "Worum werdet Ihr mich diesmal ersuchen? Soll ich wieder jemanden unter meine Fittiche nehmen?"

Wieder. Das Wort hallt in mir wider und bohrt sich wie eine spitze Lanze schmerzhaft direkt in meine Brust.

Ein leises Seufzen entfährt der verhüllten Frau. "Ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen, also bin ich gekommen um den Gefallen zu erwidern." Für einen Moment halten ihre Finger noch die Kapuze fest, dann richtet sie sich energisch auf und streckt die Arme aus, das Kinn hoch erhoben, der Rücken durchgedrückt. Feine Rinnsale laufen wie Blitze über den Boden, die Wände, die Decke, und verdichten sich zu einer leuchtenden, strahlend weißen Kugel zwischen den beiden.

"Was habt Ihr vor?", fragt die Glaubensmutter, während sie mit großen Augen das Schauspiel bewundert.

Der verhüllten Frau entfährt ein leiser Laut und ihre Arme zittern leicht. "Flieht", meint sie mit ruhiger Stimme, die so gar nicht zu ihrer angespannten Haltung passt. "Sie werden kommen. In wenigen Wochen. Ihr habt Euer Leben für uns in Gefahr gebracht, so werden wir nun Euer Leben für Euch in Sicherheit bringen."

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