NEUNUNDZWANZIG

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"Amaelya?"

Wie benommen blinzelte ich. Mein Umfeld wurde plötzlich wieder scharf, ich konnte wieder vernünftig sehen, ich nahm endlich wieder bewusst wahr, was sich vor meinen Augen abspielte.

Ich befand mich inmitten einer Ruinenlandschaft, die Schultern hängend, der Rücken gebeugt, die Arme schlaff und schwer, die Beine taub und schwach. Mein gesamtes Gesicht fühlte sich klebrig vor Schweiß an, meine Kleidung war verdreckt, löchrig, abgewetzt und von einer dicken Schicht getrocknetem Sand verklebt, durch den man kaum noch etwas vom ursprünglichen Gewand erkennen konnte.

Verwirrt betrachtete ich meine Umgebung, mich und die Person vor mir. Es war ein Mädchen mit dunklen Haaren und einem strengen Gesicht, mit leicht schräg stehenden Augen und einem eiskalten Blitzen darin. Zumindest war das früher so gewesen - jetzt sah ich darin nur Angst, Verzweiflung und einen eisernen Willen. Und irgendwie war sie sehr viel kleiner als in meiner Erinnerung.

"Mina?", fragte ich irritiert. "Wo bin ich? Was ist passiert?" Mein Kopf dröhnte, er fühlte sich schwer an, und meine Gedanken versanken in einem zähen Sumpf.

Sie sah mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. "Das will ich eigentlich von dir wissen. Was soll das werden?" Ihre Stimme zitterte. Demonstrativ deutete sie zwischen uns hin und her.

Benommen blinzelte ich erneut und senkte den Blick. Jetzt endlich verstand ich, warum sie so klein aussah: sie lag am Boden, während ich über ihr kniete. Hastig wich ich zurück, stand auf und ließ sie aufstehen.

Während sie sich aufrappelte hielt sie sich zischend eine Hand an den Hinterkopf und verzog das Gesicht beim Anblick des Blutes daran.

Der metallische Geruch setzte sich in meiner Nase fest und ließ mein Umfeld kurzzeitig wieder an Schärfe verlieren, aber ich blinzelte den Effekt weg, kniff die Augen zusammen und dann war alles wieder in Ordnung.

Misstrauisch behielt mich Mina im Auge, als sie sich betont langsam bückte um einen umgefallenen Sack wieder aufzuheben, aus dem Lebensmittel und Wasserflaschen gekullert waren. Sie ließ mich nicht eine einzige Sekunde aus den Augen, als hätte sie Angst ich könnte sonst was anstellen.

Aber das war absurd. Ich kannte Mina als knallharte, ehrliche und selbstbewusste junge Frau, deren Worte ebenso messerscharf wie frisch gewetzte Klingen sein konnten. Und doch sah ich da so etwas wie Unsicherheit und Furcht in ihrer Haltung, ihrem Blick und ihren Worten.

"Was ist passiert?", wiederholte ich. Meine Stimme war rau und kratzig, leise und schwach.

Mina schnaubte leise. "Meinst du, was ist mit dir passiert, oder was ist mit der Stadt passiert?"

Ich blinzelte einmal. Zweimal. Sah mich noch einmal um. "Das ist... Scintilla?"

Wieder ein Schnauben. "Eher was davon übrig ist, nachdem der Aufstand der Bürger gewaltsam von der Kirche niedergeschlagen wurde und sich diese Dinger in ihren Reihen zu erkennen gegeben haben", zischte sie und ballte die Hände zu Fäusten.

Dann klarte sich ihr Blick wieder auf und sie betrachtete mich aufmerksam von Kopf bis Fuß. "Und was ist mit dir passiert? Du siehst aus als hättest du im Blut deiner Feinde gebadet und dich danach im Sand ausgetollt." Angewiedert schnitt sie eine Grimasse.

Verwirrt blickte ich an mir hinab und warf ihr danach einen fragenden Blick zu. Ich konnte keinerlei Blut an mir erkennen - nur eine dicke, hartnäckige Sandschicht.

Demonstrativ deutete sie auf mein Gesicht und warf mir die Überreste eines Tuches zu, ebenso wie eine der Wasserflaschen.

"Solltest du nicht sparsam damit sein? Genug Wasser zu trinken ist wichtiger als ein sauberes Gesicht anzublicken", wandte ich skeptisch ein, nachdem ich beides aufgefangen hatte.

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