Müde, angespannt und gereizt hielt ich mich in dem Sattel auf dem Rücken meines Kamels und spielte mein kleines Spiel, um mich halbwegs wach und bei Verstand zu halten.
Seit einer Woche waren wir unterwegs, einer ganzen Woche, ich hatte die Sonnenauf- und -untergänge gezählt, jeden einzelnen. Wir hätten das Kloster längst sehen müssen, aber aufgrund unserer überstürzten Flucht aus Scintilla hatten wir keine Zeit gehabt, uns großartig zu orientieren oder jemanden zu suchen, der diese Reise schon öfter angetreten hatte.
Nahrung und Wasser wurden lsngsam knapp, einige stürzten von ihren Kamelen und starben, andere fielen dem Wahnsinn anheim und sprangen ab, stürzten sich in den Sand und lebten fernab der Realität in ihrem wirren Geist. Wir hielten niemanden auf, aber wir waren geistesgegenwärtig genug, um ihre Satteltaschen zu leeren und ihre Kamele an uns zu nehmen. Vielleicht haben wir uns nur deswegen bisher noch nicht auf die Nahrungssuche - oder die Suche nach Trinkwasser - machen müssen.
Wir, das waren übrigens neben mir selbst noch drei andere Novizinnen und eine Priesterin. Sie war es, die uns anführte, die uns den Weg wies.
Ich schlief kaum, und wenn, dann schlecht. Jede Nacht hatte ich denselben Albtraum, und jedes Mal erwachte ich schweißgebadet, hundemüde und am Rande eines Nervenzusammenbruchs mit verschwommenen Erinnerungen und vagen Ahnungen. Nie erinnerte ich mich wirklich daran, wovon der Traum gehandelt hatte. Nur die Angst blieb - und die Panik. Die Furcht. Die Verzweiflung.
Dabei hatte meine Laune seit gestern einen neuen Nullpunkt erreicht, denn die Priesterin war vom Kamel gefallen und hatte sich das Bein gebrochen.
Mein kleines Spiel hielt mich bei Sinnen, es gab mir etwas, worauf ich mich konzentrieren konnte, wenn auch nicht viel. Bei jedem Sandhaufen - die Gegend wurde um das Kloster herum immer bergiger, ein sicheres, zuverlässiges Zeichen und ein schwacher Trost - stellte ich mir vor, dahinter würde das Kloster bereits warten, mein Zuhause, mit seinen üppigen Feldern, den wiegenden Palmen und dem fließenden Wasser. Das Kloster war das größte Gebäude, das ich bisher gesehen hatte, und am Rande einer Oase erbaut. Dort mangelte es nie an Wasser oder Nahrung. Oder Geisteskraft.
Jeden Abend und jeden Morgen betete ich. Die anderen hatten damit längst aufgehört, doch ich machte weiter - nicht, weil es die Regeln vorschrieben, oder weil ich auf ein göttliches Wunder hoffte, sondern weil es mir ein Ziel gab. Eine Richtung. Etwas zu tun. Es hielt mich bei Verstand, und wenn ich mir die Gesichter der Götter bei all ihren Sagen, Mythen und Legenden vorstellte, dann hielt es mich auch bei Laune.
Hinter diesem Sandhügel gerade eben hatte nur ein weiterer Sandhügel gelegen. Aber hinter dem nächsten könnte das Kloster liegen... oder hinter dem nächsten... oder dem nächsten...
Die Sonne wanderte über den Himmel, und plötzlich hielt die Priesterin vor mir an. Neben uns stand ein bleicher Koloss aus Sandstein, eine Art kleine Burg mitten im Nirgendwo. Sie sagte irgendetwas, aber die Worte klangen in meinen Ohren so unvertraut, dass ich mich für eine Weile durch ihre Bedeutung beißen musste.
Das Gesicht von einer der anderen Novizen hellte sich auf, oder zumindest wurden ihre Augen groß, denn Mund und Nase konnte man unter dem dichten Schal nicht erkennen. Die anderen beiden Novizen schienen sich so wie ich noch durch die Worte zu mühen.
Lasst uns hier für eine Weile rasten. Ja, genau, das hatte die Priesterin gesagt. Rasten. Bleiben. Eine Pause machen. Das klang verlockend.
Die anderen beiden Novizinnen schüttelten den Kopf. Die dritte stimmte der Priesterin zu. Eine Pattsituation. Alle sahen mich an. Meine Stimme würde das Urteil fällen.
Eine Pause machen klang verlockend. Es klang herrlich, wundervoll, geradezu himmlisch. Alles in mir verlangte danach, zu nicken.
Wieso also verkrampfte sich mein Magen? Wieso schrillten innerlich meine Alarmglocken? Wieso zuckten meine Hände plötzlich, und meine Kehle fühlte sich so eng an?
Ich blickte noch einmal genauer auf die Burg. In ihren Ritzen haftete überall Sand - Sand, Sand, Sand, wohin das Auge reichte. Was war das für ein Gebäude? Stand es schon immer hier - und wenn ja, warum? Zum Kloster war es doch bestimmt nicht mehr weit.
Aber die Mauern sahen robust aus. Geschützt. Nur für ein paar Minuten dem tosenden Wind und der brütenden Hitze zu entkommen... Und die Priesterin hatte immernoch ein gebrochenes Bein. Sie brauchte sicherlich eine Pause. Wir hatten nichts bei uns um sie ordentlich zu verarzten, doch vielleicht gab es im Inneren Vorräte...
Aber - nein, je länger ich es anblickte, desto unwohler wurde mir. Ich sollte hier nicht sein. Wir sollten hier nicht sein. Wir sollten schnell verschwinden.
Ich schüttelte den Kopf und zog an den Zügeln, woraufhin sich mein Kamel wieder in Bewegung setzte. Ob sie mir folgten oder nicht, darauf achtete ich eine ganze Weile nicht. Es war ihre Entscheidung ob sie nicht doch ihren eigenen Kopf durchsetzen wollten.
Nach einer Weile drehte ich den Kopf - die drei Novizinnen folgten mir tatsächlich. Von der Priesterin keine Spur. Wir ritten weiter.
Und dann hörten wir hinter uns, in weiter Ferne, zu uns getragen durch den brausenden Wind - ihre hilflosen, letzten Schreie.

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VIRGO
Fantasy~NaNoWriMo 2022~ Mein offiziell allererster und vollkommen öffentlicher Versuch, das Event des NaNoWriMo zu bestehen. Für mehr Infos einfach einen Blick in das Vorwort-Kapitel werfen. Amaelya ist ein Mädchen ohne jede Kindheit. Ihre Erinnerung begin...