SECHSUNDZWANZIG

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Der Schlafmangel nagte zwar nur langsam, aber er nagte. Ich hatte andauernd Halluzinationen und sah Fata Morganen.

Hier eine Wasserpfütze. Da eine Festung.

Hier ein gutaussehender junger Mann mit rotbraunen Augen und schwarzem Pferdeschwanz. Da ein schattenhaftes Ungetüm mit rot leuchtenden Augen.

Hier ein Zuhause samt Oase. Da eine verfallene Geisterstadt.

Hier eine verhüllte Gestalt mit sanfter Stimme, die irgendeine Art von Zauber ausführte. Da ein bestialisches Monster, das Seelen verschlang.

Mit jedem Tag in der Wüste wurden es mehr, und sie kamen und gingen vollkommen zufällig.

Die Priesterin war unser Wegweiser gewesen, ein Fels in der Brandung der unendlichen goldenen Weite. Sie hatte den Weg zum Kloster gekannt.

Und jetzt waren wir nur noch insgesamt drei Novizinnen, ohne jeden Plan, ohne jede Ahnung. Die Vierte im Bunde war vor ein paar Stunden an der glühenden Hitze gestorben. Oder zumindest hatten wir darauf geschlossen, denn es hatte sonst keinerlei Anzeichen für eine andere Todesart gegeben.

Noch immer klammerte ich mich an mein kleines Spiel. Hinter dem nächsten Sandhaufen könnte das Kloster liegen. Oder hinter dem nächsten...

Tatsächlich lag hinter dem nächsten Sandhügel etwas - in weiter Ferne stand das Fundament von etwas, das einmal das Kloster hätte sein können. Dunkler Rauch stieg von den schwarz verkohlten Überresten auf. Viel mehr ließ sich auf die Distanz nicht erkennen, aber wir richteten uns dennoch alle drei ein klein wenig höher im Sattel der Kamele auf.

Wir tauschten einen Blick und sprachen uns durch grobes Nicken, vages Kopfrucken und demonstrative Blicke aus. Sprechen verbrauchte zu viel Kraft, zu viel Wasser und zu viel Energie. Zumal mein Hals wund gescheuert war von der trockenen Luft.

Aber das was da in der Ferne lag... Es kam mir vage vertraut vor. Bilder von qualmendem Rauch, dunklem Nebel, Schreien und Glockenschlägen - sie tanzten am Rande meiner Erinnerungen, aber sie waren so verschwommen und vage, dass ich weder hätte sagen können woher genau ich mich an sie erinnerte, noch von wann diese Erinnerungen stammen könnten. Irgendwie war alles zu einem einzigen Brei verschwommen, und es gab kein früher oder in der Zukunft mehr, sondern nur noch das hier und jetzt.

Es dauerte noch Stunden, bis wir die Ruine erreicht hatten, aber irgendwann war es schließlich soweit.

Das Wasser war mit blutroten Schlieren durchzogen, schwarz verkohlte Leichen trieben darin, Trümmerstücke und Innereien und was sonst noch schwammen an der Oberfläche. Einst goldene Felder und üppige Pflanzen waren nun kaum mehr als krumme Skelette. Die sandverkrusteten Mauern waren teils niedergerissen, teils pechschwarz, und riesige Löcher klafften in dem Gebäude, als wäre jemand einfach durch die Wand gekracht.

Ein paar Handzeichen, ein paar Blicke - und schon hatten wir uns abgesprochen. Wir waren uns alle drei sicher: Das hier sah nicht nur aus wie das Kloster, es war das Kloster. Oder zumindest das, was von unserem Zuhause noch übrig war.

Die Erkenntnis katapultierte mich aus meiner trägen Starre hinein in einen emotionalen Wirbelsturm.

Alles war kaputt. Da, da ragten die geheimen Flure aus den löchrigen Wänden, dort, die geschmolzenen und verbogenen Überreste der Mechanismen. Hier, hier lagen die Überreste der Statue von Societas aus der Eingangshalle, und dort, dort lagen die Flure zu den separaten Flügeln...

Ich stieg von meinem Kamel ab und mein Körper war steif und starr, verkrampft und wundgescheuert. Auf die anderen achtete ich gar nicht mehr, denn ich war zu beschäftigt zu versuchen zu verarbeiten, was in meiner Abwesenheit geschehen war.

Wie benommen taumelte ich durch die verwüsteten Flure und drang tiefer ins Innere der Ruine vor. Alles war rußig, als wäre ein Feuer gigantischen Ausmaßes explodiert.

Von meinem Zimmer war kaum mehr als der Grundriss geblieben, oder war es der falsche Raum? Alles sah gleich aus. Auch die Küche und der Gemeinschaftssaal bildeten keine Ausnahme, und auch meine Geheimgänge würden fortan nicht mehr in dieser Form existieren. Die Bibliothek war vollends vernichtet, all das gehortete Wissen auf ewig verschollen.

Überall lagen verkohlte Gestalten, die einst Priester oder Novizen gewesen sein könnten. Vielleicht war sogar eine von ihnen die Glaubensmutter...

Die Glaubensmutter. Der Gedanke an ihren Verlust fuhr mir scharf wie eine Rasierklinge durch die Seele, und mein Herz setzte auf schmerzhafte Weise kurz aus.

Irgendwie war mir das alles vertraut... und dann doch auch wieder nicht.

Schließlich landete ich vor der Tür zu den Gemächern der Glaubensmutter, die überraschenderweise noch stand. Mein Kopf fühlte sich an als wäre er in Watte verpackt - vielleicht würde ich sonst vollends den Verstand verlieren. Mir war schwummrig zumute, und das Blut pochte mir laut in den Ohren. Ich hatte das Gefühl, alles würde in Zeitlupe geschehen, als ich die Tür aufstieß und den Blick hob.

Alles sah noch genauso aus wie immer. Kein Ruß. Kein Staub. Keine Trümmer. Keine Leichen. Aber auch keine Überlebenden.

Jeder meiner Schritte schien in Treibsand zu versinken, als ich das Arbeitszimmer betrat. Da war der Tisch, an dem ich der Glaubensmutter zuletzt gegenüber gesessen hatte, dort der Stuhl, an dem ich mich fast schon traditionell unzählige Male niedergelassen hatte, dort waren die Türen zu den anderen Räumen, der kleinen Küche, dem Bad, dem Schlafzimmer... Benommen schloss ich instinktiv die Tür hinter mir.

Ich schaffte drei Schritte hinein.

Dann entwich mir ein leiser Laut, meine Knie gaben nach und meine Augen verloren den Fokus.

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