Mein erster Eindruck von Scintilla war, gelinde gesagt, ein Schock.
Ich war müde und durstig und hungrig - unsere Vorräte waren strengstens rationiert gewesen, um in der unwirtlichen Wüste auch ja überleben zu können - und mein ganzer Körper schmerzte von der unangenehmen Haltung auf dem Rücken des Kamels, aber das alles war augenblicklich vergessen, als die Stadtmauern in Sicht kamen - wenn man sie denn so nennen konnte.
Sie waren halb verfallen gewesen, nicht viel mehr als Ruinen, bei denen niemand sich die Mühe machte, sie wieder aufzubauen, und diesen Eindruck erhielt ich auch von den restlichen Gebäuden in der Stadt. Die Häuser bestanden aus schlichtem, ausgeblichenem Lehm und waren nichts anderes als kleine, unförmige Kästen mit niedriger Decke und, in vielen Fällen, ohne Tür. Bei einigen hing die schlichte Holzplatte schief in den Angeln, bei anderen wurden aufeinandergestapelte Holzkisten als Ersatz benutzt. Die Straßen waren dunkel und uneben und starrten vor Dreck, an den Seiten sammelte sich allerhand Unrat und es stank an einigen Stellen so arg, dass mir die Augen tränten.
Die Menschen sahen auch längst nicht so freudig und geschäftig und interessant aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Alle waren eher mager und von Kopf bis Fuß in Stoff gehüllt, die Gesichter eingefallen und düster. Man konnte niemanden hier als wirklich schön oder glücklich bezeichnen - zwar summte es vor Stimmen und man hörte die Rufe der Händler, die ihre Waren anpriesen, aber die gesamte Stimmung war insgesamt eher finster und verzweifelt.
Die anderen Novizinnen beachteten die starrenden Bürger gar nicht, schenkten ihnen nicht einmal einen einzigen Blick, als seien sie so uninteressant wie die goldene Weite, durch die wir in der letzten Woche geritten waren.
Ich dagegen konnte den Blick kaum von den fremden Menschen lösen. Einige blickten freundlich und neugierig, andere eher abfällig, einige verzweifelt und andere eher feindselig.
Wir ritten durch die engen, unebenen Straßen hindurch und schon bald kamen die ersten Stände des kleinen Basars in Sicht. Viele von ihnen sahen so verfallen und kaputt aus wie alles andere in dieser Stadt, gestützt auf bloßen Kisten, überdacht mit zerfetztem Stoff, aber je weiter wir ritten, desto ansehnlicher wurden sie - und desto reicher sahen auch die Händler hinter den Tresen aus. Bei einigen blitzte sogar Goldschmuck.
Diese neue Welt, die sich mir hier eröffnete, ließ mich schaudern. Ich hatte viel von den herrlichen Basaren gelesen, von der kunstvollen Schönheit der Städte, von den anmutigen Kleidern der Bürger - aber wenn ich mich hier so umsah, dann erkannte ich davon weit und breit nichts.
Ein Knall ertönte und erschrocken fuhr ich zusammen. Mit großen Augen richtete ich mich höher auf, reckte den Hals und suchte meine Umgebung nach dem Ursprung des grässlichen Geräuschs ab - und mein Magen verkrampfte sich.
Männer und Frauen, mehr schlecht als recht bekleidet mit Fetzen, standen in Reih und Glied mit hängenden Schultern, glasigen Augen und mutlosem Ausdruck neben einem Stand. Ein wohlgenährter Mann stand daneben und rief laut herum, während die Menschenmenge um ihn herum unterschiedliche Zahlen nannte. Als er den Mund öffnete, konnte ich kurz einen Goldzahn aufblitzen sehen. Neben ihm stand eine Gruppe anderer Männer, bewaffnet mit Peitschen und Knüppeln.
Eine Sklavenauktion. Ich hatte davon gelesen. Eigentlich war die Sklaverei bereits vor Jahrzehnten verabschiedet und für illegal erklärt worden - aber ich hatte gelesen, dass sie in kleineren Gegenden immer noch stattfanden, denn die Königin konnte schließlich nicht jedes kleine Kaff zu jeder Zeit im Auge behalten.
Trotzdem überraschte es mich, selbst Zeuge davon zu werden. Ich versuchte mir vorzustellen wie sich die Menschen fühlen mussten, die jeden Moment an eine wildfremde Person verkauft werden würden, und mir wurde augenblicklich kotzübel.

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VIRGO
Fantasia~NaNoWriMo 2022~ Mein offiziell allererster und vollkommen öffentlicher Versuch, das Event des NaNoWriMo zu bestehen. Für mehr Infos einfach einen Blick in das Vorwort-Kapitel werfen. Amaelya ist ein Mädchen ohne jede Kindheit. Ihre Erinnerung begin...