ACHTZEHN

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Ich atmete tief durch und drängte die Tränen zurück, die aufsteigen wollten.

Er kam nicht

Er kam nicht, er kam nicht, er kam nicht

Es war aus.

Hatte er mich versetzt?

Hatte er eine Schönere gefunden? Eine Bessere? Eine Elegantere?

Hatte er auch mit ihr getanzt, hatte er sie auch geküsst? Oder waren sie sogar womöglich schon sehr viel weiter?

War das seine Art gewesen, Frauen anzulocken? War das eine Art Spiel für ihn gewesen? Eine Art Falle?

Und ich war ihm ins Netz gegangen, so leichtsinnig und naiv wie ich war!

Ich hatte wirklich gedacht, er wäre nicht so. Ich hatte wirklich gedacht, er sei besonders. Er sei besser als dieser Haufen restlicher Männer, die mir bereits begegnet waren. Ich hatte wirklich gedacht er wäre gut. Ich hatte wirklich gedacht, das mit uns wäre echt.

Die erste, wahre, große Liebe bei einem Fest finden, bei dem es nur um das fleischliche Wohl ging? Wie bescheuert war ich eigentlich? Zumal es keinerlei Hoffnung für unsere angebliche Liebe gegeben hätte.

Ich war ja so dumm gewesen - und für so jemanden hatte ich die Regeln biegen und brechen wollen? Für so jemanden hatte ich das Risiko eingehen wollen, aus dem Kloster verbannt zu werden? So jemandem hatte ich mein geheimes Netz an Geheimgängen zeigen wollen? Ich Närrin!

Zischend schloss ich die Augen. Ich sollte nicht so voreilig sein. Ich war verletzt, ja. Ich war müde, wütend, traurig, verzweifelt, einsam und verletzt. Dennoch sollte ich mich nicht vollständig in meinen Spekulationen verlieren. Es kostete mich Unmengen an Überwindung, nicht in meinem inneren Monolog zu versinken - aber ich sollte ihm eine Chance geben, sich zu erklären. Oder zumindest versuchen ihn zu verstehen. Oder ihn einfach fallenlassen.

Es war ja nur ein Fest. Es war ja nur eine Nacht. Es war ja nicht so, als hätte er mich jahrelang benutzt und betrogen, und mir damit das Herz gebrochen. Danach würden wir uns sowieso niemals wiedersehen. Er würde in seinem Flügel des Klosters bleiben - oder in irgendein anderes Kloster auswandern, denn das war ebenfalls ein Privileg, das Priestern offenstand - und ich in meinem.

Aber ob absichtlich oder unabsichtlich - er hatte mich verändert. Die Zeit mit ihm hatte mich unwiderruflich verändert. Ich war jetzt eine andere als noch zu Beginn des Abends. Er hatte mir die Erfahrung dieser Nacht kaputt gemacht - egal ob absichtlich oder unabsichtlich. Ich hätte auch eines dieser Mädchen sein sollen, die nun mit irgendeinem gutaussehenden Typen ganz neue Ebenen der körperlichen Liebe erforschten. Stattdessen saß ich hier, allein, frierend, und gekränkt.

Es tat weh. Aber ich fasste einen Entschluss. Würde er mir noch einmal jemals - irgendwann vielleicht - zufällig über den Weg laufen, würde ich ihn fragen. Ich würde ihn zur Rede stellen. Würde ich ihn nie wieder sehen, niemals meine Antworten erhalten... Nun, dann sei dem so. In jedem Fall musste ich ihn loslassen, musste ich ihn aus meinem Herzen verbannen.

Bei den Göttern, ich klang gerade ja so melodramatisch! Es war zwischen uns kaum mehr geschehen als ein Gespräch, ein paar Tänze und ein Kuss! Es war kein Weltuntergang. Ich bezweifelte sogar, ob man sich nach so einer kurzen Erfahrung überhaupt verlieben konnte.

Kopfschüttelnd öffnete ich die Augen und stand auf. Mein Körper war steif und schmerzte von der langen Bewegungslosigkeit, aber ich würde es überleben. Ich dehnte und streckte mich ein wenig, und der Schmerz ließ wellenartig nach. Danach fühlte ich mich schon etwas klarer.

Jetzt zum Gasthaus zurückzukehren wäre erbärmlich und würde mich nur noch elender fühlen lassen. Die Nacht war noch jung - oder so. Alle Bewohner schliefen entweder zu dieser Uhrzeit, oder sie wälzten sich gerade mit einem Partner herum. Im Morgengrauen würde die Abschlusszeremonie stattfinden, und dann würden wir alle schon aufbrechen. Zurück nach Hause. Oder zu neuen, fernen Orten - zu anderen Klöstern und Tempeln.

Ich hatte noch immer kaum etwas von der Stadt gesehen. Das Bummeln neben Mina konnte man kaum als erkunden bezeichnen. Aber jetzt war ich frei. Ich war losgelöst, ich war alleine... und mir standen alle Möglichkeiten offen.

Minas Warnung hallte in meinem Kopf nach: Geh nicht mehr nach draußen, sobald es dunkel geworden ist.

Zwar ahnte ich mittlerweile, was sie mir damit hatte ersparen wollen - aber wie gesagt, nun wären alle beschäftigt. Eine bessere Gelegenheit als jetzt würde sich mir nicht ergeben.

Ein leises Klingeln ließ mich überrascht aufblicken. Ich wusste nicht genau, was es war - aber irgendetwas an diesem Geräusch ließ mich aufhorchen. Plötzlich verstummte es.

Unsicher blickte ich mich um, ob es vielleicht noch jemand außer mir gehört hatte, aber die ehemals Tanzenden hatten sich entweder sonst wohin verzogen, oder lagen gerade aufeinander auf dem Boden. Die Musiker hatten eine Pause eingelegt, immerhin war gerade ohnehin jeder beschäftigt, aber niemand wirkte so, als habe er etwas ungewöhnliches gehört.

Vielleicht wurde ich auch einfach mittlerweile verrückt. Das würde auch die rot leuchtenden Augen der Hohepriesterin und ihre verzerrte Fratze erklären. Na wunderbar - jetzt war ich also einsam, verletzt, wütend, traurig und wahnsinnig.

Aber - da war es wieder. Dingding. Kaum mehr als ein feines Glöckchen, das im Wind weht. Nur wo? Ich konnte weit und breit keines erkennen, aber es war ja auch dunkel - bis auf einige Fackeln und das Mondlicht.

Die Stadt. Mein Plan. Erkunden.

Seufzend schüttelte ich abermals den Kopf. Ich sollte die Nacht genießen und Erfahrungen sammeln, nicht bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammenzucken und das allerschlimmste befürchten.

Kaum hatte ich einen Schritt gemacht - fort von dem eigenartigen Klingeln - stockte ich jedoch mitten in der Bewegung und keuchte überrascht auf. Ein stechender, brennender Schmerz fuhr durch meinen Unterleib und meine Knie gaben unwillkürlich nach. Zitternd krachte mein Körper auf den Boden, aber ich spürte es kaum, denn im Vergleich mit diesem Schmerz...

Ich schrie. Ich presste meine Arme auf die Stelle, ich keuchte, ich weinte, ich zitterte...

Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte mich nicht rühren. Ich lag auf dem schmutzigen Boden, ich lag auf der Seite, und das Kleid wurde doch schmutzig, das Kleid, das so schön gewesen war, das Kleid...

Aber das drang in den Hintergrund, denn der Schmerz zerriss mich beinahe. Meine Umwelt wurde dunkel, versank in einem dichten Nebel, aber was blieb war der Schmerz...

Genau so schnell wie der... Anfall oder was auch immer gekommen war, genauso schnell verging er auch wieder. Ich lag zitternd und bebend und fix und fertig auf der Seite, Wangen und Kinn klitschnass, mein Blickfeld mit einem Tränenschleier bedeckt.

Da war es wieder. Das Klingeln. Als würde es mich verspotten.

Aber ich wagte es nicht, mich noch einmal abzuwenden. Zu groß war die Angst, der Schmerz könnte wiederkehren. Zwar verstand ich nun gar nichts mehr - aber ich wollte einfach nur noch nach Hause. Ich wollte schlafen und zurück nach Hause, zu der Glaubensmutter, zu den schützenden Mauern, zu den blühenden Gärten, in denen nichts unheimlich oder unbekannt oder unsicher war. Oder schmerzhaft.

Stück für Stück stemmte ich mich hoch. Ich löste mich umständlich vom Boden als wäre ich daran festgeklebt gewesen, und zwang mich auf die Füße. Meine Knie pochten und brannten vom Aufprall, aber das war mir mittlerweile auch egal. Ich wollte nur noch ins Bett.

Und je schneller ich dieses nervige Klingeln loswurde, desto schneller konnte ich mich verkriechen.

Also wischte ich mir über die Augen und schleppte mich vorwärts - zu diesem schmerzhaften Unbekannten.

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